Sieben Jahre später
langsam Tag, aber der graue Himmel sorgte für trübes Licht im Raum. Mit einer Fernbedienung erweckte die Anthropologin einen großen Flachbildschirm an der Wand zum Leben und rief eine Diashow von der Autopsie des »Maori«-Riesen auf, den Sebastian Larabee in Deckers Kneipe ermordet hatte.
Der kupferfarbene Fleischberg, der im grellen Licht der Projektoren auf einem Inoxtisch lag, hatte etwas Abstoßendes, doch Santos hatte schon Schlimmeres gesehen. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete verwundert die eindrucksvollen Tätowierungen, die die Leiche überzogen. Nicht nur das Gesicht, der ganze Körper war voll davon: Spiralen an den Oberschenkeln, riesige Stammesmotive auf dem Rücken, Arabesken auf der Brust.
Keren White stand jetzt vor dem Bildschirm und begann zu erklären: »Wegen der Schnitttechnik und der Motive im Gesicht habe ich, wie Sie, zunächst gedacht, das Opfer sei polynesischer Abstammung.«
»Aber dem ist nicht so …«
»Nein. Die Motive sind zwar ähnlich, entsprechen aber nicht ganz dem strikten Code der Polynesier. Ich glaube, es handelt sich eher um die Kennzeichen einer Gang.«
Santos kannte das Ritual. Bei den mittelamerikanischen Gangs zeigte die Tätowierung die Zugehörigkeit einer Person und die lebenslange symbolische Verbindung an.
Keren White drückte auf die Fernbedienung, und eine neue Serie von Bildern erschien.
»Diese Fotos stammen aus einem kalifornischen Gefängnis. Die Häftlinge gehören verschiedenen Gangs an, doch das Schema ist immer gleich: Verüben die Mitglieder ein neues Verbrechen zugunsten ihrer Gemeinschaft, dürfen sie eine weitere Tätowierung hinzufügen. Ein Stern auf dem Arm zeigt zum Beispiel, dass man jemanden umgebracht hat, dasselbe Zeichen auf der Stirn bedeutet, dass es zwei Menschen waren.«
»Der Körper wird zu einer Art Curriculum Vitae des Verbrechens«, stellte Santos fest.
Die Anthropologin nickte und kam dann zu der Vergrößerung einer Tätowierung des Opfers.
»Bei unserem ›Freund‹ finden wir das fünfzackige rote Sternsymbol. Es muss so tief in die Haut geschnitten worden sein, dass es wie ein Relief erscheint.«
»Haben Sie es analysiert?«
»Sehr eingehend. Das Instrument, das verwendet wurde, war sicher ein traditionelles Messer mit kurzer Klinge. Interessanter aber sind die Farbpigmente. Ich denke, es handelt sich um einen ganz speziellen Pflanzensaft, nämlich um den des brasilianischen Kautschukbaums.«
Keren White machte eine kurze Pause und kam dann zu einem anderen Bild.
»Ich habe diese Fotos von Gefangenen im brasilianischen Gefängnis von Rio Branco gefunden.«
Santos erhob sich, trat näher und entdeckte auf den Körpern dieselben Tätowierungen wie auf dem des vermeintlichen Maori: verschlungene Arabesken, spiralförmige Gebilde.
Die Anthropologin fuhr fort: »Diese Gefangenen haben eines gemeinsam: Sie gehören alle zum Drogenkartell der Seringueiros , das in Acre, einem kleinen Bundesstaat Amazoniens an der Grenze zu Peru und Bolivien, ansässig ist.«
»Die Seringueiros ?«
»So hat man früher die Gummizapfer genannt. Acre war einer der größten Produzenten. Ich nehme an, sie haben den Namen übernommen.«
Sie schaltete den Bildschirm aus und das Licht wieder ein. Santos brannten mehrere Fragen auf den Lippen, doch Miss Skeleton verabschiedete ihn: »Jetzt sind Sie am Zug, Lieutenant«, erklärte sie und trat auf den Gang.
Santos stand vor dem Kommissariat am Ericsson Place. Verblüfft von Keren Whites Enthüllungen, hatte er das Bedürfnis, nachzudenken. Er betrat ein Starbucks in der Nähe, bestellte etwas Heißes zu trinken, setzte sich an einen Tisch und überlegte.
Das Kartell der Seringueiros …
Auch wenn er schon seit zehn Jahren bei der Drogenfahndung war, hatte er doch noch nie davon gehört. Das war an sich nicht weiter verwunderlich, denn seine tägliche Arbeit bestand eher darin, die örtlichen Dealer einzusperren, als große internationale Netzwerke auffliegen zu lassen. Er klappte seinen Laptop auf und loggte sich ins WLAN ein. Auf der Internetseite der Los Angeles Times fand er einen Artikel vom letzten Monat, der das Kartell betraf.
Der Fall des
Seringueiros
-Kartells
Nach zweijährigen Ermittlungen haben die brasilianischen Behörden ein Drogendealer-Kartell enttarnt, das in dem Amazonien-Staat Acre im westlichsten Teil des Landes agierte.
Nach kolumbianischem Vorbild organisiert, hatten die Seringueiros ihre Fühler in fast zwanzig der insgesamt sechsundzwanzig
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