Sieben Jahre später
mit hohen Hügeln.
»Diese beiden Berge dort bezeichnet man als die ›zwei Brüder‹. Dort geht die Sonne unter«, erklärte sie. »Ich war vor ein paar Jahren im Urlaub da.«
Sie bearbeitete das Foto so, dass man anhand der Beschriftung der Sonnenschirme den Namen der Bar lesen konnte, in der Flavia arbeitete: Cachaça . Sie notierte ihn in ihrem Heft.
»Und Camille?«, fragte Nikki.
Simon schüttelte den Kopf. »Nachdem sie nichts von Jeremy gehört hat, fing sie an, sich Sorgen zu machen, und wollte zu ihm nach Rio fahren. Aber ich sage ja, seit sie in Brasilien ist, kann ich sie nicht mehr erreichen.«
In Sebastians Kopf vermischten sich Verzweiflung und Erschöpfung. Er stellte sich seine beiden Kinder in dieser Riesenstadt vor – verloren und ohne Geld.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
»Lass uns nach Rio fahren«, schlug Nikki vor.
Aber Constance intervenierte sofort: »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Ich erinnere Sie daran, dass Sie Flüchtige sind, gegen die ein internationaler Haftbefehl vorliegt. Ihre Personenbeschreibung ist überall bekannt. In Roissy bleiben Sie keine zehn Minuten auf freiem Fuß …«
»Vielleicht können Sie uns helfen«, flehte Nikki, die mit den Tränen kämpfte. »Es geht um unsere Kinder!«
Constance seufzte und blickte zum Fenster hinaus. Sie versetzte sich vierundzwanzig Stunden zurück, als sie die Akte Larabee auf ihrem Handy empfangen hatte. Beim Überfliegen der ersten Seiten hätte sie nie gedacht, dass dieser dem Anschein nach so banale Fall eine solche Wendung nehmen würde. Doch sie musste auch zugeben, dass es nicht lange gedauert hatte, bis sie aufrichtiges Mitgefühl für dieses ungewöhnliche Paar und seine verrückten Kinder empfunden hatte. Sie hatte ihre Geschichte geglaubt und ihnen zu helfen versucht, doch jetzt war sie auf ein unüberwindbares Hindernis gestoßen.
»Es tut mir leid, aber ich sehe keinen Weg, Sie außer Landes zu bringen«, erklärte sie und wich Nikkis Blick aus.
Kapitel 55
»Willkommen an Bord, Madame Lagrange. Willkommen an Bord, Monsieur Botsaris.«
Nikki und Sebastian steckten ihre Bordkarten ein und folgten der charmanten Stewardess der größten lateinamerikanischen Fluggesellschaft TAM zu ihren Plätzen in der Businessclass. Sebastian reichte ihr seine Jacke, behielt aber die beiden wertvollen Pässe bei sich, die ihnen Constance und ihr Assistent ausgehändigt hatten.
»Unglaublich, dass das geklappt hat«, flüsterte er und betrachtete das Foto von Nicolas Botsaris. »Der Typ ist fünfzehn Jahre jünger als ich!«
»Du siehst zwar auch jünger aus«, meinte Nikki, »aber die Beamten an der Passkontrolle haben es wirklich nicht sehr genau genommen.«
Ängstlich sah sie aus dem Fenster auf die Leuchtmarkierungen, die in der Nacht blinkten. Es regnete in Strömen. Die Tropfen malten ein silbriges Muster auf den Asphalt. Ein Sauwetter, das nicht gerade dazu angetan war, ihre Flugangst zu mindern. Sie suchte in dem kleinen Etui, das die TAM jedem Passagier zur Verfügung stellte, nach einer Schlafbrille, legte sie auf die Augen und setzte die Kopfhörer des iPods auf, den sie in Jeremys Zimmer gefunden hatte, in der Hoffnung, möglichst bald einschlafen zu können.
Schlafen, um ihre Angst zu beherrschen.
Ihre Kräfte zu schonen.
Sie wusste, dass ihre Aufgabe in Brasilien nicht leicht sein würde. Sie hatten in Paris viel Zeit verloren. Wenn sie ihre Kinder wiederfinden wollten, würden sie schnell handeln müssen.
Von der Musik beruhigt, verfiel Nikki in leichten Schlaf, eine Mischung aus Träumen und Erinnerungen: an die Entbindung, die erste Trennung von ihren Kindern, eine Unterbrechung der Symbiose nach Monaten des Glücks, wenn sie ihre Bewegungen gespürt hatte.
Die Boeing 777 war vor mehr als zwei Stunden gestartet und flog jetzt über Portugal. Sebastian reichte der Stewardess sein Tablett zum Abräumen.
Er ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. Er hätte gern geschlafen, war aber zu nervös. Um sich zu beschäftigen, schlug er den Reiseführer auf, den Constance ihm mitgegeben hatte, und überflog die ersten Zeilen.
Rio de Janeiro, eine Megastadt mit über zwölftausend Millionen Einwohnern, ist bekannt für den Karneval, Sandstrände und eine Vorliebe für Feste. Doch die zweitgrößte Stadt Brasiliens ist auch von Kriminalität und Gewalt geprägt. Mit mehr als fünftausend offiziell registrierten Morden im letzten Jahr ist Rio einer der gefährlichsten Orte der Welt. Die Rate
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