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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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intellektuell.
    Ich stand auf und ging in den Flur. Sachte klopfte ich an die Tür von Antjes Zimmer und fragte leise, Sonja? Sie gab keine Antwort. Die Tür war nur angelehnt, und ich ging hinein. Sonja lag auf dem Bett und schlief, einen Arm über den Kopf gehoben auf dem Kissen. Unter der Achsel war ein kleiner, dunkler Schweißfleck, der einzige Makel in einem sonst perfekten Bild. Ich streichelte den Fleck mit dem Finger, eine andere Berührung wagte ich nicht. Auf dem Schreibtisch stand die Rolleiflex. Ich holte sie und fing an, Sonja zu fotografieren. Das Bild auf der Mattscheibe war seitenverkehrt, und ich brauchte einige Zeit, bis ich mich daran gewöhnt hatte, jede Bewegung, die ich machte, in ihr Gegenteil verkehrt zu sehen. Langsam ging ich um das Bett herum, um den perfekten Ausschnitt zu finden, ich ging näher heran und entfernte mich wieder. Ich drückte ein paar Mal ab, einmal, als ich ganz nah war, runzelte Sonja beim Geräusch des Auslösers kurz die Stirn, und ich glaubte schon, sie würde erwachen, aber ihr Gesicht entspannte sich wieder, und ich fotografierte weiter. Dann war der Film voll, und ich nahm ihn heraus, verklebte ihn und legte ihn zu den Filmrollen, die Sonja am Morgen belichtet hatte. Als ich das Zimmer verlassen wollte, hörte ich Sonjas verschlafene Stimme meinen Namen sagen. Ich drehte mich um und ging zurück zu ihr. Ich muss eingeschlafen sein, sagte sie. Ich sagte, ich hätte auch ein wenig gedöst.
    Sonja sagte, sie bringe die Filme zum Entwickeln, ob ich mitkäme. Wir gingen ins Fotogeschäft unten an der Straße und tranken danach einen Aperitif in einem Bistro am alten Hafen.
     
    Am nächsten Tag wollte Sonja das Château d’If besichtigen. Antje hatte gesagt, von dort aus führen Schiffe zu ein paar kleinen Inseln, wo man wunderbar baden könne. Wir packten die Badesachen ein, kauften uns Sandwichs und holten im Fotogeschäft die Abzüge ab.
    Das Boot fuhr vom alten Hafen aus. Obwohl es noch früh war, drängten sich die Badegäste an der Anlegestelle. Als das Schiff den Hafen verließ, kreuzte es kleine Fischerboote und weiter draußen eine riesige Fähre, die wahrscheinlich von Korsika kam oder aus Nordafrika. Das Licht und der Salzgeruch und die Schiffe erinnerten mich an Sommerferien mit meiner Familie, und ich fühlte mich ein wenig wie damals, verloren und zugleich voller Erwartung.
    Beim Château d’If stiegen nur wenige Passagiere aus, die meisten fuhren gleich weiter zu den Badeinseln. Die Festung faszinierte mich sofort durch ihre Monumentalität und die einfachen Formen. Sie bestand aus einem quadratischen Mittelbau mit drei mächtigen Türmen an den Ecken. Sie war vor fünfhundert Jahren gebaut und fast von Anfang an als Gefängnis genutzt worden. Im Mittelbau gab es einen engen Innenhof mit einem Ziehbrunnen und Galerien, von denen aus man in die Zellen gelangte. In den Zellen war es düster, nur wenig Licht fiel durch schmale, tiefliegende Schießscharten. Die Mauern seien bis zu vier Meter dick, sagte Sonja und fing an, einige Details in ihr Skizzenbuch zu zeichnen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, hier eingesperrt zu sein. Dabei empfand ich eher ein Gefühl von Geborgenheit und Schutz als eines des Gefangenseins.
    Auf dem Dach der Burg war das Licht blendend hell und warf scharfe schwarze Schatten auf den rötlichen Stein. In der Entfernung sah man die Stadt, aber über dem Land war es schon jetzt so diesig, dass nur die Silhouetten der Gebäude zu sehen waren. Nach einer Stunde nahmen wir das Boot zu den Inseln. Es war voller braungebrannter junger Leute, die Plastiklatschen trugen und nicht viel mehr als ihre Badeanzüge. Sonja wirkte neben ihnen auf einmal steif und unsicher und ein wenig fehl am Platz.
    Das Schiff lief Frioul an, die erste der Inseln. Bei der Anlegestelle stand eine kleine Bahn bereit, um die Badegäste zum Strand zu fahren, aber Sonja wollte sich erst die Ruine des deutschen Forts ansehen, die auf einer Anhöhe über dem Hafen lag. Wir stiegen den steinigen Weg empor. Die Hitze war unerträglich, und als wir oben ankamen, war ich völlig verschwitzt und zog mein T-Shirt aus. Sonja schien die Hitze gar nicht wahrzunehmen, sie sah immer noch frisch aus. Paul Virilio vergleiche die Bunker mit Gräbern, sagte sie, während sie durch die Ruinen ging. Er sagt, es sei, als begäben die Menschen sich freiwillig in ihr Grab, um sich vor dem Tod zu schützen. Wir hatten den höchsten Punkt erreicht, und am Horizont war eine

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