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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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kümmerte. Ich fragte, mit wem ich spreche? Hartmeier, sagte er, ein Freund.
     
    Am nächsten Nachmittag ging ich zu Iwona. Ich hatte Sonja gesagt, ich hätte eine Besprechung, und sie hatte genickt und gesagt, sie werde heute wohl länger arbeiten, es habe sich so viel angesammelt während ihrer Krankheit.
    Iwona wohnte in einem Mietshaus, das Teil einer gesichtslosen Siedlung aus den sechziger Jahren war. Die Gebäude standen unmittelbar an der Straße, nur in ihrer Mitte gab es eine Grünfläche mit ein paar Bäumen und einem verlassenen Spielplatz. Die Fassade war schmutzig und neben dem Eingang mit kryptischen Zeichen besprayt, aber sonst war das Haus in erstaunlich gutem Zustand. Ich klingelte, und nach einer Weile kam ein vierschrötiger Mann mit grauen Haaren die Treppe herunter und öffnete mir die Tür. Hartmeier, sagte er und streckte mir die Hand hin. Wir haben Sie schon erwartet. Ich schaute auf die Uhr, ich war nur wenige Minuten zu spät. Er führte mich in den dritten Stock in eine kleine, überfüllte Wohnung. Er klopfte an eine Tür und trat ein. Ich blieb im Flur stehen und hörte, wie er mit falsch wirkender Freundlichkeit in der Stimme sagte, er müsse los. Du bist sicher, dass du zurechtkommst? Dann kam er wieder in den Flur und hielt mir die Tür auf. Wenn Sie gehen, achten Sie bitte darauf, dass sie hinter Ihnen abschließt.
    Ich trat ins Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, und es dauerte einen Moment, bis ich Iwona im Zwielicht erkannte. Sie saß auf einem Sessel beim Fenster. Auch dieser Raum war vollgestopft mit Dingen. Die Luft war abgestanden und viel zu warm. Ich trat zu Iwona und reichte ihr die Hand. Sie hatte sich verändert in den Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten. Ihr Gesicht war aufgeschwemmt, ihr Haar dünn geworden. Sie trug einen hässlichen wattierten Morgenmantel von unbestimmter Farbe und weiße Socken in Hausschuhen aus Plastik. Obwohl sie nur zwei Jahre älter war als ich, wirkte sie wie eine alte Frau.
    Ich hatte ihren Körper gekannt in allen Einzelheiten, ihre schweren, etwas schlaffen Brüste, die Polster in ihrem Nacken, ihren Bauchnabel, die vereinzelten schwarzen Härchen auf ihrem Rücken und die vielen Muttermale. Ich wusste, wie sie roch und wie sie schmeckte, wusste, wie ihr Körper auf Berührungen reagierte, welche Bewegungen ihm eigen waren und welche ihm schwerfielen, aber als ich Iwona da sitzen sah, wurde mir bewusst, dass ich nichts von ihr wusste, dass sie mir vollkommen fremd war.
    Sie erzählte ganz freimütig, beinahe lustvoll, wie es schien, von der Operation. Sie habe während der Regel schon seit längerem heftige Blutungen gehabt und Bauchkrämpfe. Der Arzt habe Myome entdeckt, harmlose Tumore, und statt ihr jahrelang Pillen zu verschreiben, habe er ihr empfohlen, die Gebärmutter entfernen zu lassen und die Eierstöcke. Eine Routineoperation, sagte sie, die Entfernung geschehe vaginal, ohne eine Öffnung der Bauchdecke. Es war befremdlich, die medizinischen Begriffe aus ihrem Mund zu hören. Sie sprach von ihrem Körper, als handle es sich um eine defekte Maschine. Sie habe keine Angst vor der Operation, sagte sie, nur dass sie danach keine Kinder mehr haben könne, mache sie traurig. Für ein Kind wäre es mit achtunddreißig ohnehin spät, dachte ich, aber ich sagte nichts.
    Bist du mit jemandem zusammen?, fragte ich. Herr Hartmeier ist nur ein Freund, sagte sie. Sie habe eine Grippe, deshalb sei sie zu Hause. Und da schaue er ein wenig nach ihr. Sie fragte, ob ich Tee wolle, und ich folgte ihr in die Küche und schaute zu, wie sie Wasser heiß machte und Teebeutel aus dem Schrank nahm. Die Art, wie sie sich bewegte, hatte etwas Kokettes, ich finde kein anderes Wort dafür. Vermutlich war ich außer ihrem Arzt und ihrem Vater der einzige Mann, der sie jemals nackt gesehen hatte, dachte ich. Und plötzlich hatte ich das überwältigende Verlangen, sie zu entblößen. Ich trat von hinten an sie heran und öffnete ihren Morgenmantel und ließ ihn zu Boden gleiten. Darunter trug sie ein dünnes kurzes Nachthemd, vielleicht dasselbe, das sie damals schon gehabt hatte. Ich zog es ihr über den Kopf und zog ihr auch die Unterwäsche aus. Sie drehte sich zu mir um. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
    Ich war ziemlich sicher, dass Iwona noch nie mit einem Mann geschlafen hatte und dass ihr heftiges Atmen nichts mit Erregung zu tun hatte, sondern mit Angst. Ich wusste, ich machte einen Fehler, der nicht wiedergutzumachen war,

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