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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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aber ich war wie betäubt vor Lust. Ich zog sie ins Schlafzimmer und zum Bett, und sie legte sich hin und ich mich auf sie. Wieder fiel mir auf, dass Iwonas Körper ein Eigenleben zu führen schien, dass er nackt wie losgelöst war von ihrer Person und unerwartete Reaktionen zeigte, seine eigene, stumme Sprache hatte. Während Iwona die Augen geschlossen hielt und ihr Gesicht aussah wie das einer Schlafenden, war ihr Körper wach und reagierte auf jede Berührung, auf jeden Blick fast, mit einem Beben, einem Zittern, einer An- oder einer Entspannung, was mich zugleich erregte und abstieß.
    Um fünf rief ich Sonja im Büro an und sagte, ich käme später, die Besprechung dauere länger, als ich gedacht hätte. Dann ging ich zurück ins Schlafzimmer. Iwona lag nackt auf dem Bett, ihre Stellung hatte etwas Obszönes. Ich legte mich auf sie, und sie schloss wieder die Augen.
    Es war gegen sieben, als ich mich endlich von ihr losmachen konnte. Sie war im Bad, und ich saß in der kleinen Küche auf einem Schemel und fühlte mich wie erlöst. Ich hörte Geräusche aus der Wohnung über uns und musste an die Leute denken, die hier wohnten, die Horden von Menschen, die am Morgen die Züge füllten und abends vor dem Fernseher ihre Zeit absaßen, die irgendwann krank wurden von der schweren Arbeit und von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen. Ein Lager von Lebenden und Toten, hatte Aldo Rossi die Stadt einmal genannt, in dem nur einige Symbole zurückblieben. Unentzifferbare Hinweise auf Menschen, die hier einmal gelebt hatten. Ein wenig hatte ich mich immer gefürchtet vor dieser gesichtslosen Masse, für die wir Wohnhäuser bauten. Ich musste an die Richtfeste denken, wenn wir mit den Arbeitern die Fertigstellung einer Siedlung feierten. Wie sie dann zusammenhockten und uns, die Geldgeber und Bauherren und Architekten, fast herablassend betrachteten. Oder wenn ich Jahre später eine der Siedlungen besuchte, wenn ich sah, wie die Gebäude in Besitz genommen worden waren – zum Trocknen aufgehängte Wäsche auf den Balkonen, achtlos hingeworfene Fahrräder vor den Hauseingängen, kleine Blumenbeete, die gegen jedes Landschaftskonzept angelegt worden waren –, auch dann empfand ich weniger Ärger als Angst und zugleich eine Art Faszination vor dem wuchernden Leben, das sich unseren Plänen entzog, von den Erinnerungen, die hier wuchsen und sich mit den Gebäuden verbanden zu einer untrennbaren Einheit. Dann verstand ich den Satz, ein Gebäude sei erst fertig, wenn es abgerissen oder zur Ruine zerfallen sei.
    Einmal hatte ich zugehört, wie Sonja dem Hausmeister eines Schulhauses zu erklären versuchte, weshalb die Fahrradständer nicht vergrößert werden könnten. Sie sprach von Proportionen, von Form und Ästhetik. Er schaute sie verständnislos an und sagte, die Kinder müssten ihre Räder doch irgendwo abstellen. Sonja hatte mich hilfesuchend angeschaut, aber ich hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, der Hausmeister habe recht. Sie hatte verärgert den Kopf geschüttelt und war ohne ein weiteres Wort gegangen.
    Iwona kam aus dem Bad. Sie sah müde aus. Ich sagte, ich müsse gehen. An der Tür fragte ich sie, was die Operation koste. Ungefähr viertausend Mark, sagte sie. Ich war überrascht, dass es nicht mehr war. Ich leihe dir das Geld, sagte ich, du zahlst es mir zurück, wenn du kannst. Ich bringe es dir vorbei. Sie sagte, sie sei tagsüber immer zu Hause. Abends gehe sie putzen. Vergiss nicht, die Tür abzuschließen. Ich musste lächeln. Sie sagte, Herr Hartmeier meine es nur gut mit ihr.
     
    Von da an sah ich Iwona wieder regelmäßig. Meine Gefühle ihr gegenüber waren anders als vor sieben Jahren. Ich kann nicht behaupten, sie interessierte mich als Mensch, aber ich hatte mich wohl an sie gewöhnt und empfand nicht mehr die Aggressionen wie früher. Ich trank ihren Kräutertee, obwohl ich ihn nicht mochte, und ließ mir ihre langweiligen Geschichten gefallen, und manchmal erzählte auch ich ihr etwas, irgendwelche Büroangelegenheiten, die sie sich anhörte, ohne ein Zeichen von Interesse oder Anteilnahme. Es war immer noch und ausschließlich das Körperliche, das mich an sie band, diese trägen Stunden im überheizten Zimmer, die wir miteinander verbrachten, aneinander klebend, ineinander kriechend, zusammen und doch jeder für sich. Einmal, ich war kurz zur Toilette gegangen, schlief Iwona ein, und ich betrachtete ihren verwelkten Körper und ihr Gesicht, das durch die Entspannung des Schlafes

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