Sieben Jahre
beschäftigen. Manchmal beobachtete ich sie, wenn sie auf dem Boden auf einer Decke lag und gedankenverloren irgendetwas betrachtete oder unermüdlich dieselbe Handbewegung wiederholte, ein Spielzeug zu fassen versuchte oder ein Plüschtier, das neben ihr lag. Später pflegte sie ihre Puppen mit der Hingabe einer Mutter. Sie fütterte sie und legte sie schlafen und erzählte ihnen abstruse Gutenachtgeschichten, die sie wer weiß woher hatte. Wenn ich sie danach fragte, schwieg sie. Sie war kein unfreundliches Kind, aber sie war immer sehr verschlossen und schien in ihrer eigenen Welt zu leben. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass nichts von der Liebe, die ich für sie empfand, zurückkam, dass meine Gefühle verschwanden wie Materie in einem schwarzen Loch.
Sophie war in allem etwas später als andere Kinder, es dauerte lange, bis sie laufen lernte, und auch mit zwei Jahren sprach sie noch kein Wort. Birgit, Sonjas Gynäkologin und Sophies Patentante, sagte, das habe nichts zu bedeuten, Hauptsache, sie sei gesund. Sonja schien etwas enttäuscht, obwohl sie es nie zugegeben hätte. Sie wollte, dass Birgit Tests mache, aber Birgit weigerte sich. Lass ihr Zeit, sie hat ihr eigenes Tempo.
Birgit und Sonja legten die Arzttermine immer vor ihren Feierabend, und danach gingen wir meist noch irgendwo essen. Einmal erzählte Birgit, Tanja habe ihr geschrieben. Sie habe ihrem Schweizer inzwischen drei Kinder geschenkt und lebe in einer Art Wohngemeinschaft mit mehreren Familien auf einem abgelegenen Bauernhof in der Nähe des Bodensees. Sie versorgten sich selbst und unterrichteten ihre Kinder zu Hause. Sie wollte sich mit mir versöhnen, sagte Birgit.
Offenbar hatte die Organisation inzwischen ihre deutschnationale Gesinnung abgelegt und kämpfte jetzt gegen die islamistische Gefahr und gegen den Krieg. Tanja habe geschrieben, sie könne sich nicht für den Frieden auf der Welt engagieren, wenn in ihrem eigenen kleinen Garten keine Eintracht herrsche, deshalb wolle sie Birgit um Vergebung bitten.
Birgit lachte. Sie könnten sich auch für die Kleinschreibung einsetzen oder gegen Tierversuche, diese Leute ändern sich nie. Und, fragte Sonja, vergibst du ihr? Es gibt überhaupt nichts zu vergeben, sagte Birgit. Sie hat mir ein paar Ausgaben einer Zeitschrift beigelegt, die von ihrer Organisation herausgegeben wird. Was sie schreiben, klingt erst mal gar nicht so falsch. Aber wenn man genauer liest, entdeckt man doch wieder diese Mischung aus autoritärer Gesinnung, Naturheilkunde und Weltverschwörungstheorien. Habt ihr gewusst, dass die Wolkenkratzer in New York von der amerikanischen Regierung in die Luft gesprengt wurden? Wenn die Welt nur so einfach zu erklären wäre. Sonja fand, Birgit solle Tanja schreiben, es koste sie ja nichts. Aber Birgit schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie, ich lasse mich darauf nicht ein. Man darf solche Wahnsysteme nicht unterstützen.
Ich hatte schon öfter von Fällen gehört, in denen eine Frau nach der Adoption eines Kindes schwanger geworden war, und insgeheim hoffte ich wohl, wir würden noch ein zweites Kind bekommen. Als ich Sonja eines Tages darauf ansprach, sagte sie, sie habe sich ein Pessar einsetzen lassen. Ich war konsterniert und fragte, ob wir nicht wenigstens einmal darüber hätten reden können. Du musst ja nicht mit einem dicken Bauch rumgehen, sagte Sonja. Außerdem haben wir doch ein Kind. Ich sagte, ich fände es schön, wenn Sophie einen Bruder oder eine Schwester hätte, aber Sonja sagte, wir hätten schon für sie zu wenig Zeit. Sie schien meine Aufregung nicht zu verstehen. Überhaupt kam sie mir, seit Sophie bei uns war, distanzierter vor. Sie war öfter schlecht gelaunt und kritisierte an mir herum, nicht mehr scherzhaft wie früher, sondern mit einer Gereiztheit, die ich vorher nicht an ihr gekannt hatte. Das Familienleben schien sie zu langweilen. Wenn wir an einem Sonntag spazieren gingen und später zu dritt in einem Café saßen, entstand oft eine peinliche Stille. Dann stand Sophie auf und fing an, im Lokal herumzulaufen, bis Sonja sie zurückrief und sagte, kannst du denn nicht mal einen Moment still sitzen. Stumm leerte sie ihren Kaffee und stand auf. Können wir jetzt gehen?
Draußen dämmerte es schon. Sophie hielt uns beide an den Händen und zog uns abwechselnd vorwärts und ließ sich mitschleppen. Sonja war immer noch gereizt. Hör auf, sagte sie, hör jetzt endlich auf! Sophie schien gar nicht hinzuhören. Sie machte weiter, bis Sonja ihre
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