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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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leichten Kleidern, die von hier aus wohl weiterziehen würden in andere Lokale, ins Kino oder ins Theater. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr richtig ausgegangen und hatte plötzlich das Gefühl, ich verpasste etwas. Ich sehnte mich nach dem einfachen Studentenleben. Statt mit einer schönen Frau saß ich mit dem Vertreter einer Schulbehörde hier und diskutierte über Brandschutzvorschriften und Fluchtwege. Ich langweilte mich und trank zu schnell und zu viel. Als ich den Bauherrn endlich abschütteln konnte, war ich betrunken. Ich ließ das Auto in der Stadt und nahm die S-Bahn nach Hause. Sonja war noch wach und saß im Wohnzimmer. Sie legte ihr Buch weg und fing an über ein Problem zu reden, das Sophie mit einer ihrer Klassenkameradinnen hatte. Ich sagte, ich sei müde, und sie beklagte sich, dass alles an ihr hängenbliebe. Ich war zu erschöpft, mich zu streiten. Reden wir am Wochenende darüber, sagte ich und ging ins Bett.
    Mitten in der Nacht erwachte ich mit furchtbaren Zahnschmerzen. Ich schaute auf den Wecker, es war kurz nach drei. Ich nahm ein Aspirin und setzte mich ins Wohnzimmer vor den Fernseher und schaute mir die Wiederholung einer Talkshow an, in der Menschen auf die primitivste Art aufeinander losgingen. Ich weiß nicht mehr, was das Thema war, aber ich kann mich noch an die hässlichen, wutverzerrten Gesichter erinnern und daran, dass ich dachte, wie dünn die Schicht von Zivilisation ist und wie schnell sie zerreißt, wenn unser Schmerz, unser Hass oder unsere Geilheit überhandnehmen. Angewidert schaltete ich das Gerät aus und holte mir in der Küche ein Glas Wasser. Das Aspirin zeigte absolut keine Wirkung, aber das kalte Wasser linderte den Schmerz wenigstens vorübergehend ein wenig. Ich saß auf dem Sofa und trank es Schluck um Schluck und wartete darauf, dass es Morgen wurde.
     
    Mein Zahnarzt sagte, eine Wurzel sei entzündet, er werde mir einen Stiftzahn einsetzen müssen. Er verödete die Wurzel und machte ein Provisorium. In einem Monat wollte er schauen, wie die Sache sich entwickelt hätte. Er verschrieb mir ein stärkeres Mittel, und die Schmerzen ließen nach, aber der provisorische Zahn war eine dauernde Irritation. Immer wieder tastete ich ihn mit der Zunge ab, er kam mir riesig vor. Die Vorstellung, einen Zahn verloren zu haben, deprimierte mich, es war eine lächerliche Erinnerung an meine Sterblichkeit.
    Noch auf dem Weg zurück ins Büro rief meine Sekretärin an. Es gab Probleme auf einer Baustelle, der Fassadenbauer hatte falsche Stahlprofile bestellt und behaupte nun, unsere Konstruktion sei ohnehin nicht stabil genug. Ich fertigte sie kurz ab und sagte, sie solle den Statiker anrufen. Ob denn überhaupt nichts ginge ohne mich, wozu ich zwanzig Leute bezahle, wenn am Schluss doch alles an mir hängenbliebe. Vierzehn, sagte sie beleidigt und hängte auf.
    Meine Stimmung wurde nicht besser in den nächsten Tagen. Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl von Bedrohung, das auch nicht verschwand, wenn ich abends Wein trank, um mich zu beruhigen. Sonja arbeitete an einem Wettbewerbsbeitrag, sie musste die Pläne in ein paar Tagen abgeben und zog sich zurück, was bei ihr nicht ungewöhnlich war. Aber diesmal kam ich mir allein gelassen vor und war niedergeschlagen. Sophie musste die schlechte Stimmung spüren. Sie verlangte dauernd nach ihrer Mutter und reagierte störrisch auf alles, was ich ihr sagte. Ich versuchte zu argumentieren, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Wenn ich wütend wurde, fing sie an zu schreien und sich auf dem Boden zu wälzen wie ein kleines Kind. Ich drohte ihr mit allem Möglichen, war aber zu lasch, die Drohungen auch wahr zu machen. Manchmal war ich nahe daran, sie zu schlagen. Kaum war sie dann im Bett, hatte ich ein schlechtes Gewissen und schämte mich für mein Versagen.
    Ungefähr zu dieser Zeit fing ich wieder an, mich mit Iwona zu beschäftigen. Es war ein warmer Tag im Frühsommer, Sonja war noch im Büro, und ich hatte Sophie von der Schule abgeholt, ihr das Abendbrot zubereitet und sie ins Bett gebracht. Dann setzte ich mich auf die kleine Terrasse vor dem Haus und rauchte einen Zigarillo. Im Radio hatten sie für heute Nacht Regen angekündigt. Die Luft war schwül, über den Bergen hatten die Wolken eine dunkle Gewitterfärbung angenommen, und dann und wann wetterleuchtete es. Am Seeufer blinkten die Sturmwarnlampen, obwohl es windstill war. Dann kamen die ersten Böen, eine Tür knallte, und die Nachbarin kam aus dem Haus

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