Sieben Leben
wir
normalerweise die ganze Woche miteinander verbracht und das Wochenende
obendrein. Aber das war Silvia auf Dauer irgendwie ein bißchen eng und
eingefahren vorgekommen. Der unter-der-Woche-Typ war sie eben auch nicht. Sie
war nicht leicht zufrieden zu stellen, was die gemeinsame Zeitgestaltung
betraf.
Wenn es überhaupt die
Arbeitszeiten waren, um die es hier ging.
So oder so, ich stürzte mich jetzt erst mal in dieselbe.
Statt Mittagessen besorgte ich mir eine Tasse Kaffee. Meinen
Hunger konnte ich später im ICE-Bordrestaurant stillen. Jetzt mußten schnellstmöglich
ein paar knackige Folien her. Das Problem war, dass meine Analyse nicht so recht
vorankommen wollte.
Ich hätte natürlich spontan meinen ersten Eindruck zu Papier
bringen können (Methode Nr. 12 aus meiner Berater-Toolbox), aber das schien mir
nicht ratsam. Der erste Eindruck konnte täuschen. Und wenn nicht, schien es
erst recht nicht ratsam, denn mein erster Eindruck war verheerend, und das
würde meinen Klienten womöglich nicht glücklich machen. Genau das aber war mein
Job. Gefragt waren also Relativierungen. Optionen, Chancen,
Handlungsalternativen. Ich brauchte mehr Kaffee.
Beim Gang zur Kaffeemaschine traf ich im Flur auf meinen
Klienten. Mist. Der wollte natürlich sofort wissen, wie weit ich war.
„Im Prinzip fertig“, versicherte ich mit der
branchenüblichen Professionalität. Bluffen gehörte zum Handwerk.
„Prima“, freute sich Karo. Na also. Er war glücklich und ich
kam vielleicht doch pünktlich los.
„Ich würde die Sachen nachher gerne noch mit Ihnen
durchsprechen?“, ließ Karo da freudestrahlend verlauten.
„Nachher?“, echote ich verwirrt.
„Ja, nachher. Ich bin ziemlich dicht heute. Aber so um sechs
würde es passen. Ich würde mir gerne vor dem Wochenende noch ein Bild machen,
wo wir stehen.“
Na prima. Sechs Uhr. Da kam er noch rechtzeitig zu seiner
Frau zum Abendessen nach Hause, und ich verpaßte meinen Zug. Vor meinem
geistigen Auge tauchte Silvia auf. Eine eingeschnappte, bissige Silvia. Ideale
Voraussetzungen, um mal in Ruhe über unsere Beziehung zu sprechen.
„Wissen Sie“, versuchte ich zu erklären. „Das wird heute
leider nicht gehen. Sonst jederzeit gerne, aber gerade heute abend habe ich
diese Verabredung…“
Ich versuchte, es so klingen zu lassen, als hätte ich noch
einen wichtigen geschäftlichen Termin. Das mit Silvia ließ ich natürlich weg,
niemand glaubte ernsthaft, daß Berater ein nennenswertes Privatleben brauchten,
beziehungsweise es interessierte einfach nicht. Silvia glaubte es ja auch
nicht.
Mein Klient schluckte. Er war nicht erfreut. Sein Adamsapfel
hüpfte wie ein Jo-Jo auf und ab. Trotz Karojacke hatte er ein Büro im zwölften
Stock. Top Floor. Da kam man nur hin, wenn man wirklich wichtig war, und so
jemanden versetzte man nicht einfach so.
Natürlich war Karo Profi und blieb äußerlich gelassen.
„Soooo… Wenn Sie meinen...“. Er bemühte sich um einen
ungezwungenen Tonfall. Aber das Ende des Satzes hing drohend in der Luft. Genau
wie seine Augenbraue.
Nun, ich war nicht sein Leibeigener, sondern sein Berater.
Ihm blieb also letztlich nichts anderes übrig, als mir ein schönes Wochenende
zu wünschen und mich ziehen zu lassen.
Allerdings machte er sich eine mentale Notiz. Beim nächsten
Projektreview würde er das Thema Kundenfreundlichkeit in Relation zur Höhe der
Beratersätze zur Sprache bringen. Als Gesprächspartner hatte er meinen Chef im
Auge, und er hatte vor, auf einen ganz bestimmten Berater näher einzugehen.
Um den Boden zu bereiten, versicherte er mir zum Abschied,
wie hoch er meine Arbeit schätzte und wie vorzüglich meine Analyse zweifellos
sei, und daß er sich schon sehr auf die Details freue, die ich sicher zahlreich
und mit großem Geschick eingearbeitet hätte, auch wenn er auf meine
persönlichen Erläuterungen ja heute leider verzichte müsse, was aber gar kein
Problem wäre. Obwohl er sich extra heute abend eine Stunde für mich reserviert
hatte. Aber kein Problem. Gar kein Problem. Er würde sich über das Wochenende
eben meine schriftlichen Unterlagen anschauen. Sehr genau anschauen.
Ich versicherte ihm, daß die Analyse bestimmt seine
Erwartungen treffen würde und ich mich schon sehr auf sein Feedback freue. Aber
eben erst am Montag. Dann drückte ich ihm den Foliensatz mit meiner
Einschätzung seiner großartigen Produktidee in die Hand und begann zu packen.
In nächster Zeit durfte ich mir keinen Schnitzer mehr
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