Sieben Leben
war nämlich der Meinung, ich führe zu schnell. Was natürlich Quatsch
war, aber unter den gegebenen Umständen nur schwer zu vermitteln sein würde.
Ich versuchte, diese düsteren Gedankengänge beiseite zu
schieben. Es war nicht mehr zu ändern.
Der Verkehr wurde zähflüssiger. Ich arbeitete mich auf einer
der Hauptlebensadern der Stadt langsam in Richtung Bahnhof vor. Schon zu jeder
anderen Tageszeit kein Vergnügen, herrschte am Freitag Nachmittag das reinste
Chaos.
Überall liefen Männer mit gelben Helmen durch die Gegend und
ein Sattelschlepper, dessen Fahrer aufgebracht mit einem Baggerführer
diskutierte, blockierte alle drei Spuren Richtung Innenstadt. Die beiden
schienen sich heftig zu streiten. Wahrscheinlich beanspruchten sie das gleiche
Stück Asphalt jeweils für ihr Vehikel.
Der Bahnhof war zu diesem Zeitpunkt schon in Sichtweite,
aber der Sattelschlepper hatte es geschafft, dass der Verkehr völlig zum
Erliegen kam. Noch acht Minuten. Das durfte doch nicht wahr sein. Sieben
Minuten. Nach allem, was ich schon auf mich genommen, war ich nicht bereit,
jetzt einfach aufzugeben.
Sechs Minuten.
Unter den staunenden Blicken der Passanten und dem wütenden
Hupen meines Nebenmannes scherte ich über alle Spuren hinweg nach rechts aus,
holperte auf den Gehsteig und stellte den Motor ab.
Der Nieselregen hatte sich mittlerweile zu einem
ordentlichen Schauer ausgewachsen. Als ich Koffer, Aktentasche und Notebook aus
dem Kofferraum gewuchtet hatte, war ich bereits bis auf die Knochen durchnäßt.
Trotzdem verzichtete ich auf meinen Schirm, ich hatte nur zwei Hände. Ich
hastete schwer beladen Richtung Bahnhof. Einer von den Gelbhelmen, dem Organ
nach ein enger Verwandter des Baggerführers, rief mir nach. Er deutete
aufgeregt auf meinen Wagen, aber ich reagierte nicht. Ich wußte selbst, dass
man da nicht parken durfte.
Hätte ich mich umgedreht, hätte ich gesehen, daß ich den
Wagen nicht nur im Halteverbot, sondern auch etwas unglücklich im toten Winkel
des Baggers geparkt hatte. Dessen Fahrer brüllte gerade dem Sattelschlepper
eine letzte rohe Verunglimpfung zu und setzte dann wütend und mit Schwung
zurück. Einige Augenblicke später war ein ohrenbetäubendes Knirschen zu hören.
Ich beschloß, dass das häßliche Geräusch von berstendem
Stahlblech, das an meine Ohren drang, nichts mit meinem Mietwagen zu tun haben
konnte und drehte mich nicht um.
Noch vier Minuten bis zur Abfahrt. Ich schleppte mich
triefend in die Bahnhofshalle. Das Gewicht meines Gepäcks raubte mir den Atem,
und meine Hand zitterte. Ich kritzelte den kurzen Hinweis „Wagen an der
Baustelle vorm Bahnhof abgestellt“ auf den Mietvertrag und warf ihn mitsamt dem
Schlüssel in den Briefkasten einer Mietwagenfirma. Leider nicht die, bei der
ich den Wagen angemietet hatte, aber ich sah bloß diesen einen Briefkasten und
hatte es eilig. Ich nahm doch an, dass die sich alle untereinander kannten.
Ansonsten würde das wahrscheinlich Ärger geben. Da ich mich nicht umgedreht
hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wieviel Ärger das noch geben würde.
Noch drei Minuten. Neu beflügelt bewältigte ich die Treppe
zu den Fernbahnsteigen in Rekordzeit und kam gerade rechtzeitig, um den ICE aus
der Bahnhofshalle fahren zu sehen. Das durfte nicht wahr sein. Seit wann fuhren
die denn früher ab?
Sie taten es nicht. Ein kurzer Vergleich der Bahnhofsuhr mit
meiner nagelneuen Reverso zeigte mir, wo die fehlenden Minuten geblieben waren.
Die hatte meine Armbanduhr augenscheinlich einfach verschluckt.
Ich wollte es nicht glauben und befragte drei oder vier
Passanten, wie spät es ihrer Meinung nach sei, bevor ich mich resigniert auf
meinem Koffer niederließ und meiner guten, alten Casio nachtrauerte. Nicht so
ein Designerstück wie die Reverso, aber alle Zeitzonen immer präzise verfügbar.
Es schien, dass die Japaner die Schweizer in Sachen Präzision mittlerweile
hinter sich gelassen hatten.
Ich überlegte, was ich tun konnte.
Ich konnte Silvia anrufen und ihr erzählen, daß ich den Zug
verpaßt hatte. Aber ich hatte schon zu oft irgendwelche Züge verpaßt, in Staus
gesteckt oder irgendwelche unvorhergesehene Termine wahrnehmen müssen. Da
wollte ich nicht ausgerechnet heute am Telefon die Frage diskutieren, wie
wichtig mir eigentlich unsere Beziehung war. Wo ich doch um des lieben Friedens
willen heute extra einen Streit mit meinem Kunden riskiert hatte.
Natürlich, der Flughafen! Mit ein bißchen Glück konnte ich
noch die
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