Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sieben Phantastische Geschichten

Sieben Phantastische Geschichten

Titel: Sieben Phantastische Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
Vom Netzwerk:
der in seinen Augen aufblitzte, verriet eine starke innere Wandlung. Die Last des Ärgers und der Frustration, die ihn während der vergangenen Tage geplagt hatten, schien aufgehoben. »Dr. Normand, soll das bedeuten, daß man die gesamte Anstalt mobilisiert hat, einen Mann zu suchen, den niemand erkennen würde, selbst wenn man ihn fände? Sie überraschen mich wirklich, mein lieber Normand. Ich hatte immer den Eindruck, Sie seien ein Mann mit kühlem Kopf und scharfer Intelligenz, aber bei der Suche nach diesem Hinton scheinen Sie eher auf irgendwelche geheimen Kräfte zu bauen.«
    »Aber, Herr Direktor! Man kann doch nicht von mir erwarten, daß ich mich an das Gesicht jedes einzelnen Patienten erinnere –«
    »Genug, genug!« Dr. Mellinger stand mit einem Ruck auf und setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort. »Das ist alles sehr beunruhigend. Anscheinend muß einmal das gesamte Verhältnis von Green Hill und seinen Patienten neu durchleuchtet werden. Unsere Patienten sind keine gesichtslosen Nummern, meine Herren, sondern Inhaber einzigartiger und wesentlicher Persönlichkeiten. Wenn wir sie als Nullen betrachten und ihnen keine persönlichen Eigenschaften zuerkennen, dann brauchen wir uns wohl kaum zu wundern, wenn sie plötzlich zu verschwinden beginnen, nicht wahr? Ich schlage vor, daß wir uns die nächsten Tage dafür freihalten, eine sorgfältige Neueinschätzung vorzunehmen. Lassen Sie uns einmal all die gefälligen Vermutungen überprüfen, die wir so eilig anstellen.« Von seiner Vorstellung überwältigt, trat Dr. Mellinger in das helle Licht, das durchs Fenster hereinfiel, als wollte er sich dieser neuen Offenbarung gleich hier und jetzt selbst stellen. »Ja, das ist die Aufgabe, die jetzt vor uns liegt; aus ihrem erfolgreichen Abschluß wird ein neues Green Hill hervorgehen. Ein Green Hill ohne Schatten und Verschwörungen, ein Green Hill, in dem Patienten und Ärzte im gemeinsamen Vertrauen und in gemeinsamer Verantwortung einander gegenüberstehen.«
    Ein bedeutungsvolles Schweigen folgte auf den Schluß dieser Predigt. Schließlich räusperte sich Dr. Redpath, zögerte, Dr. Mellingers erhabene Gemeinschaft mit sich selbst zu stören. »Und Hinton, Sir?« sagte er schließlich.
    »Hinton? Ach, ja, Hinton«, Dr. Mellinger drehte sich um und sah die drei Männer an, wie ein Bischof, der dabei ist, seiner Gemeinde den Segen zu erteilen. »Hinton wollen wir als eine Veranschaulichung dieses Prozesses der Selbstprüfung ansehen, als den Mittelpunkt unserer Neueinschätzung.«
    »Wir setzen die Suche also fort, Sir?« hakte Redpath nach.
    »Selbstverständlich.« Für einen Augenblick schweiften Dr. Mellingers Gedanken ab. »Ja, wir müssen Hinton finden. Er ist irgendwo hier in der Nähe; seine Substanz durchdringt Green Hill, ein großes metaphysisches Rätsel. Lösen Sie es, meine Herren, dann werden Sie auch das Geheimnis seines Verschwindens gelöst haben.«
    Während der nächsten Stunde schritt Dr. Mellinger al
    lein den Teppich ab, hin und wieder blieb er stehen und wärmte sich die Hände an dem kleinen Feuer unter dem Kaminsims. Seine spärlichen Flammen verzweigten sich im Kamin wie die Gedanken, die in den Randzonen seines Geists ihr Spiel trieben. Er hatte das Gefühl, daß sich endlich eine Möglichkeit bot, aus der Sackgasse herauszukommen. Er war immer voll und ganz davon überzeugt gewesen, daß Hintons geheimnisvolles Verschwinden mehr zu bedeuten hatte als einfach nur die Tatsache einer Lücke in den Sicherheitseinrichtungen, sondern daß dies alles symbolisch gemeint war, etwas, das im Prinzip an den Fundamenten von Green Hill rüttelte.
    Diese Gedanken gingen Dr. Mellinger noch immer durch den Kopf, als er sein Büro verließ und sich auf den Weg zu dem Stockwerk machte, in dem die Verwaltungsbüros untergebracht waren. Die Räume waren verlassen; das gesamte Personal beteiligte sich an der Suche. Gelegentlich waren die quengeligen Rufe der Patienten zu hören, die nach ihrem Frühstück verlangten. Zum Glück waren die Wände dick und gut isoliert, und die Unterbringungskosten in der Anstalt so hoch, daß einer Überbelegung schon von vornherein ein Riegel vorgeschoben war.
    Das Green Hill-Pflegeheim (Motto und wesentlicher Anreiz: »In weiter, weiter Ferne liegt ein Grüner Hügel«) gehörte zu denjenigen Einrichtungen, die von den wohlhabenderen Mitgliedern der Gemeinde gefördert werden und in Wahrheit nichts anderes sind als Privatgefängnisse. An derartigen Orten werden

Weitere Kostenlose Bücher