Sieben Phantastische Geschichten
ich hatten gerade eine höchst aufschlußreiche Unterhaltung. Ich glaube fast, wir haben für das Rätsel um Hintons Verschwinden eine Lösung gefunden.«
Dr. Normand nickte vorsichtig. »Da bin ich aber wirklich erleichtert, Sir. Ich hab mir schon überlegt, ob wir nicht doch die Polizei benachrichtigen sollten. Es sind jetzt fast 48 Stunden, seit …«
»Mein lieber Normand, ich fürchte, Sie sind nicht ganz auf dem laufenden. Unsere Einstellung gegenüber dem Hinton-Fall hat sich inzwischen völlig geändert. Dr. Booth war mir eine große Hilfe. Wir haben über die Möglichkeit gesprochen, daß sich für ihn vielleicht etwas in der Verwaltung finden ließe. Haben Sie die Hinton-Akte?«
»Nein, Sir, leider nicht«, entschuldigte sich Normand, seine Augen wanderten zwischen Booth und dem Direktor hin und her. »Jemand muß sie verlegt haben. Ich habe aber gleich alles veranlaßt, daß sie gesucht wird. Sobald wir sie wiederhaben, lasse ich sie bringen.«
»Danke, Normand, das wäre nett.« Mellinger faßte Booth am Arm und begleitete ihn zur Tür. »Ich bin über Ihre schnelle Auffassungsgabe sehr froh, Doktor. Ich möchte gern, daß Sie dem Personal auf Ihrer Station genau dieselben Fragen stellen, wie ich sie Ihnen gestellt habe. Zerteilen Sie den Nebel von Illusionen und falschen Annahmen, die in ihren Köpfen herumgeistern. Warnen Sie sie vor den Illusionen, die auf Illusionen aufbauen, die den Anschein von Realität annehmen können. Erinnern Sie sie auch daran, daß man in Green Hill einen klaren Kopf behalten muß. Es würde mich sehr wundern, wenn auch nur einer von ihnen die Hand aufs Herz legen und schwören könnte, daß Hinton tat sächlich existiert.«
Nachdem Booth das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Dr. Mellinger wieder seinem Schreibtisch zu. Im er sten Augenblick schien er seinen Stellvertreter gar nicht zu bemerken.
»Ach, ja, Normand. Ich frage mich, wo wohl diese Akte geblieben ist. Sie haben sie nicht gebracht?«
»Nein, Sir. Wie ich schon sagte –«
»Na, macht nichts. Aber wir dürfen nicht nachlässig werden, Normand, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Ist Ihnen klar, daß wir ohne diese Akte buchstäblich nichts über Hinton in den Händen haben? Das wäre wirklich höchst peinlich.«
»Ich versichere Ihnen, Sir, die Akte –«
»Schon gut, Normand. Machen Sie sich keine Sorgen.« Dr. Mellinger bedachte den unruhigen Normand mit einem durchtriebenen Lächeln. »Ich habe den größten Respekt dafür, wie außerordentlich gut die Verwaltung unter Ihrer Leitung funktioniert. Daher halte ich es auch für unwahrscheinlich, daß die Akte verlegt wurde. Sagen Sie, Normand, wissen Sie genau, daß es diese Akte je gegeben hat?«
»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte Normand prompt. »Natürlich habe ich sie nicht persönlich gesehen, aber für jeden Patienten in Green Hill gibt es eine vollständige Personalakte.«
»Aber, Normand«, bemerkte der Direktor mit sanfter Stimme, »der betreffende Patient befindet sich aber gar nicht in Green Hill. Völlig egal, ob diese hypothetische Akte nun existiert oder nicht, Hinton jedenfalls existiert nicht.«
Er machte eine Pause und wartete, während Normand ihn anstarrte und die Augen zusammenkniff.
Eine Woche darauf hielt Dr. Mellinger in seinem Büro eine Schlußsitzung ab. Es herrschte eine deutlich ent spanntere Stimmung; seine Untergebenen saßen in den Ledersesseln rund ums Feuer, während sich Dr. Mellinger an den Schreibtisch lehnte und zusah, wie sein bester Sherry die Runde machte.
»Also, meine Herren«, bemerkte er zusammenfassend, »wir dürfen auf die vergangene Woche als eine Periode einzigartiger Selbstfindung zurückblicken, auf eine Lektion, die uns allen erteilt wurde, auf daß wir uns des wahren Wesens unserer Rolle in Green Hill erinnern mögen, und daran, daß es unsere Aufgabe ist, Realität und Illusion auseinanderzuhalten. Wenn unsere Patienten von Hirngespinsten heimgesucht werden, dann sollten wenigstens wir einen absolut klaren Kopf behalten und die Gültigkeit irgendeiner Annahme nur dann akzeptieren, wenn all unsere Sinne es ebenfalls bestätigen. Nehmen wir als Beispiel die ›Hinton-Affäre‹. Hier wurde, aufgrund einer ganzen Ansammlung falscher Annahmen, sowie Illusionen, die sich auf Illusionen stützen, rund um die völlig mystische Identität eines Patienten ein gewaltiges Phantasiegebilde errichtet. Diese Phantasiegestalt, die wir gewissermaßen nicht entdeckt haben – höchstwahrscheinlich handelt
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