Sieben Phantastische Geschichten
wahr?«
»Ganz und gar nicht, mein lieber Normand«, erwiderte Dr. Mellinger freundlich. Während er in Gedanken seine Antwort formulierte, ging ihm durch den Kopf, daß er seinem Stellvertreter eigentlich noch nie so recht getraut oder ihn gar gemocht hatte; bei der nächstbesten Gelegenheit würde er ihn auswechseln, am bequemsten durch Redpath, dessen grobe Schnitzer in der »Hinton-Affaire«, wie man es bereits nennen konnte, dafür sorgen würden, daß man ihn für alle Zeiten unter dem Daumen hatte. »Wenn es irgendeinen Beweis für etwas gäbe, das Hinton für seine Flucht benutzt hat – zusammengeknotete Bettücher oder Fußabdrücke in den Blumenbeeten –, dann dürften wir annehmen, daß er sich nicht mehr innerhalb dieser Mauern befindet. Aber einen solchen Beweis gibt es bis jetzt nicht. Nach allem, was wir wissen – tatsächlich deutet eigentlich alles darauf –, befindet sich der Patient noch immer innerhalb der Mauern von Green Hill, von Rechts wegen sogar noch immer in seiner Zelle. Die Gitter am Fenster waren nicht durchgesägt, und die einzige Möglichkeit, da rauszukommen, war durch die Tür, aber die Schlüssel dafür hatte Dr. Booth«, er deutete auf den Dritten im Bunde, einen schlanken jungen Mann mit besorgtem Gesichtsausdruck – »und zwar die ganze Zeit, vom letzten Kontakt mit Hinton bis zu Entdeckung seines Verschwindens. Dr. Booth, als der Arzt, der für Hinton verantwortlich ist: Wissen Sie auch ganz sicher, daß Sie der letzte waren, der ihn besucht hat?«
Dr. Booth nickte zögernd. Der Ruhm, Hintons Flucht entdeckt zu haben, war schon längst verflogen. »Um sieben Uhr, Sir, als ich abends meine Runde machte. Aber die letzte Person, die Hinton gesehen hat, war die wachhabende Schwester, eine halbe Stunde später. Da jedoch keine Behandlung verschrieben war – der Patient stand nur unter Beobachtung –, hat sie die Tür gar nicht aufgemacht. Kurz nach neun beschloß ich, den Patienten aufzusuchen –«
»Warum?« Dr. Mellinger legte seine Fingerspitzen aneinander und baute so den Turm und das Hauptschiff einer Kathedrale. »Das gehört zu den merkwürdigsten Aspekten dieses Falls, Doktor. Warum sollten Sie sich wohl, fast anderthalb Stunden später, entschlossen haben, Ihr gemüt liches Büro im Erdgeschoß zu verlassen und drei Treppen raufzusteigen, nur um eine flüchtige Inspektion vorzunehmen, die die diensthabende Schwester genauso hätte vornehmen können? Ich verstehe Ihre Motive nicht, Doktor.«
»Aber, Herr Direktor –!« Dr. Booth hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben. »Sie wollen mich doch nicht etwa verdächtigen, mit Hintons Verschwinden etwas zu tun zu haben? Ich versichere Ihnen –«
»Aber ich bitte Sie, Doktor.« Dr. Mellinger hob seine weiche weiße Hand. »Nichts würde mir ferner liegen. Vielleicht hätte ich sagen sollen: Ihre unbewußten Motive.«
Wieder protestierte der unglückliche Booth: »Aber, Herr Direktor, ich hatte keine unbewußten Motive. Ich gebe zu, daß ich mich nicht mehr genau daran erinnere, was mich dazu veranlaßt hat, nach Hinton zu sehen, aber ganz bestimmt handelte es sich um einen ganz banalen Grund. Ich habe den Patienten ja kaum gekannt.«
Dr. Mellinger beugte sich über den Tisch nach vorn. »Das ist genau, was ich meine, Doktor. Um es genau auszudrücken: Sie haben Hinton überhaupt nicht gekannt.« Dr. Mellinger starrte auf sein verzerrtes Spiegelbild in dem silbernen Tintenfaß. »Sagen Sie, Dr. Booth, wie würden Sie Hinton vom Aussehen her beschreiben?«
Booth zögerte. »Nun, er war… mittelgroß, wenn ich mich recht erinnere, mit… ja, mit braunen Haaren und blassem Teint. Seine Augen waren – ich sollte die Akten nachlesen, um mein Gedächtnis aufzufrischen, Herr Direktor.«
Dr. Mellinger nickte. Er wandte sich Redpath zu. »Können Sie ihn beschreiben, Doktor?«
»Ich fürchte, nein, Sir. Ich habe den Patienten nie zu Gesicht bekommen.« Er deutete auf den stellvertretenden Direktor. »Ich glaube, Dr. Normand hat bei der Aufnahme mit ihm gesprochen.«
Angestrengt forschte Dr. Normand in seinem Gedächtnis. »Wahrscheinlich war es mein Assistent. Wenn ich mich nicht täusche, war er ein Mann von durchschnittlichem Aussehen, ohne besondere Merkmale. Weder klein, noch groß. Vielleicht untersetzt.« Er spitzte die Lippen. »Ja. Oder vielmehr, nein. Ich weiß genau, daß es mein Assistent war, der mit ihm gesprochen hat.«
»Interessant.« Dr. Mellinger lebte sichtlich auf, der Anflug von ironischem Spott,
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