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Sieben Phantastische Geschichten

Sieben Phantastische Geschichten

Titel: Sieben Phantastische Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
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versammelte, musterte Dr. Mellinger jeden einzelnen mit einem unheilvollen Blick, aber ihre übernächtigten Gesichter starrten stumm auf den Teppich, als suchten sie Hintons Versteck nun, nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatten, ihn irgendwo anders zu finden, zwischen dem tiefen, rubinroten Flaum des Gewebes.
    Wenigstens war nur ein Patient verschwunden, überlegte Dr. Mellinger, ein negatives Gefühl, das noch größere Bedeutung gewann, wenn man an das Geschrei dachte, das die Außenwelt anstimmen würde, wenn man entdeckte, daß ein Patient – offensichtlich ein mordsüchtiger Verrückter – über zwölf Stunden lang auf freiem Fuß gewesen war, bevor die Polizei benachrichtigt wurde.
    Diese Entscheidung, die Behörden vorerst nicht in Kenntnis zu setzen – eine falsche Einschätzung der Lage, die mit jeder verrinnenden Stunde sträflicher schien –, war für Dr. Mellinger der einzige Hinderungsgrund, nicht sofort nach einem Sündenbock zu suchen – Dr. Mendelsohn von der pathologischen Abteilung, ein unwichtiger Zweig der Anstalt, hätte einen bequemen Sündenbock abgegeben – und ihn auf dem Altar seiner eigenen Unbesonnenheit zu opfern. Seine natürliche Vorsicht und der Widerwille, auch nur einen Zentimeter Boden abzugeben, außer wenn er dazu gezwungen wurde, hatten Dr. Mellinger daran gehindert, gleich während der ersten Stunden nach Hintons Verschwinden, als man noch immer bezweifelte, daß er die Anstalt tatsächlich verlassen hatte, allgemein Alarm zu schlagen. Obgleich die Tatsache, daß Hinton nicht aufzutreiben war, als vernünftiger Hinweis dafür gelten durfte, daß seine Flucht erfolgreich verlaufen war, hatte sich Dr. Mellinger typischerweise geweigert, eine derart falsche Logik einfach hinzunehmen.
    Jetzt aber, über zwölf Stunden später, war seine Fehleinschätzung der Lage nicht mehr zu übersehen. Wie das kleine höhnische Lächeln auf Dr. Normands Gesicht erkennen ließ und wie die andern Untergebenen bald bemerken würden, stand jetzt sein Posten als Direktor der Anstalt auf dem Spiel. Wenn sie Hinton nicht innerhalb der nächsten paar Stunden fänden, würde er vor den Polizeibehörden und dem Aufsichtsrat eine unmögliche Figur abgeben.
    Allerdings erinnerte sich Dr. Mellinger auch, daß es nicht ohne ein gehöriges Maß an List und einigem Nachhelfen dazu gekommen war, zuerst einmal überhaupt Direktor von Green Hill zu werden.
    »Wo ist er?«
    Mit der veränderten Betonung des zweiten Worts seiner Frage wollte Dr. Mellinger illustrieren, daß die fruchtlose Suche nach Hintons Verbleib durch eine Überprüfung seiner eigenen absolut existentiellen Rolle in dieser unglücklichen Farce, dessen Autor und Hauptdarsteller er war, aufgehoben war. Durchdringend sah er seine drei frühstückslosen Untergebenen an.
    »Nun, haben Sie ihn gefunden? Schlafen Sie nicht ein, meine Herren! Sie mögen vielleicht eine schlaflose Nacht hinter sich haben, ich dagegen muß erst noch aus diesem Alptraum aufwachen.« Während er seinen humorlosen Hieb verteilte, warf Dr. Mellinger einen sarkastischen Blick in die von Rhododendron gesäumte Auffahrt, als erwarte er, dort plötzlich den verschwundenen Patienten auftauchen zu sehen. »Dr. Redpath, Ihren Bericht, bitte.«
    »Die Suche geht weiter, Herr Direktor.« Dr. Redpath, der die Verwaltung der Nervenheilanstalt unter sich hatte, war auch für die Sicherheit verantwortlich. »Wir haben das gesamte Gelände abgesucht, Schlafsäle, Garagen und Nebengebäude – sogar die Patienten beteiligten sich –, aber von Hinton keine Spur. Ich sage es nur ungern, aber ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, als die Polizei zu benachrichtigen.«
    »Unsinn.« Dr. Mellinger setzte sich an seinen Platz hinter dem Schreibtisch, die Arme weit ausgestreckt und die Augen auf die leere Tischplatte gerichtet, als suchten sie dort nach einer kleinen Ausgabe des verschwundenen Patienten. »Lassen Sie sich nicht entmutigen, weil Sie unfähig sind, ihn zu finden, Doktor. Bevor wir nicht alles gründlich durchsucht haben, verschwendet die Polizei doch nur ihre Zeit, wenn wir sie um Hilfe bitten.«
    »Selbstverständlich, Herr Direktor«, stimmte Dr. Normand leise zu, »andererseits können wir jetzt aber, nachdem wir bewiesen haben, daß sich der vermißte Patient nicht innerhalb der Grenzen von Green Hill aufhält, ergo, zu dem Schluß kommen, daß er sich außerhalb von ihnen befindet. In diesem Fall sind doch vielleicht eher wir es, die der Polizei helfen, nicht

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