Sieben Phantastische Geschichten
all jene abscheulichen oder unglücklichen Verwandten untergebracht, deren Gegenwart einem lästig oder peinlich ist: die unerfreulichen Witwen von Schwarzen Schafen unter den Söhnen, senile, altjüngferliche Tanten, ältere Junggesellen unter den Cousins, die den Preis für ihre indiskreten Liebschaften zahlen müssen – kurz, all jene Unglücklichen, die von dem Heer der Privilegierten preisgegeben werden. Was die Förderer von Green Hill betraf, war ihnen ein optimales Maß an Sicherheitsvorkehrungen am wichtigsten, die Behandlung selbst, falls sie überhaupt stattfand, kam erst an zweiter Stelle. Dr. Mellingers Patienten waren auf bequeme Weise aus der Welt geschafft, und solange sie nur in diesem entfernten Limbo ausharrten, waren diejenigen, die die Rechnung dafür bezahlten, zufrieden. Was natürlich dazu beitrug, Hintons Verschwinden zu einer besonders gefährlichen Angelegenheit zu machen.
Dr. Mellinger trat durch die offene Tür von Normands Büro und ließ den Blick kurz durch den Raum streifen. Auf dem Schreibtisch lag, hastig aufgeschlagen, eine schmale Akte, mit ein paar Dokumenten und einem Foto.
Einen Augenblick blieb sein Blick abwesend daran hängen. Dann, nach einem verstohlenen Blick in den Gang, schob er sie sich unter den Arm und eilte über die leere Treppe nach oben. Draußen hallten die Geräusche der Suche und der Verfolgung, durch die dichten Rhododendronbüsche gedämpft, über das Gelände. Dr. Mellinger setzte sich an seinen Schreibtisch, schlug die Akte auf und starrte auf das Foto, das auf dem Kopf lag. Ohne es umzudrehen, betrachtete er eingehend die unregelmäßigen Gesichtszüge. Die Nase war gerade, Stirn und Wangen symmetrisch, die Ohren ein bißchen zu groß, aber, in dieser verdrehten Lage jedenfalls, besaß das Gesicht keine in sich abgeschlossene Persönlichkeit.
Als er die Akte zu lesen begann, spürte er plötzlich ein tiefes Gefühl der Abneigung. Dieser ganze Komplex Hinton mit seinem gefährlichen Anspruch auf Realität verursachte ihm große Übelkeit. Er weigerte sich, einfach hinzunehmen, daß dieser geistlose Krüppel mit seinen anonymen Gesichtszügen für die Verwirrung und Angst des ganzen vorangegangenen Tages verantwortlich sein sollte. War es denn möglich, daß diese paar Blatt Papier diesem mickrigen Individuum vollen Anspruch auf Realität zusicherten?
Dr. Mellinger zuckte zusammen, als er die Akte mit den Fingern berührte, und trug sie dann hinüber zum Kamin. Mit abgewandtem Gesicht und einem sich vertiefenden Gefühl der Erleichterung lauschte er den Flammen, die zuerst kurz aufglühten und dann in sich zusammensanken.
»Mein lieber Booth! Kommen Sie herein. Nett von Ihnen, daß Sie sich die Zeit nehmen.« Noch während Dr. Mellinger seine Begrüßungsworte sprach, schob er ihn zu einem Sessel neben dem Feuer und hielt ihm sein silbernes Zigarettenetui hin. »Da wäre eine kleine Sache, über die ich gern mit jemandem reden würde, und Sie sind fast der einzige, der mir vielleicht helfen kann.«
»Aber selbstverständlich gern, Herr Direktor«, versicherte Booth. »Es ist mir eine Ehre.«
Dr. Mellinger setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Es handelt sich um einen höchst seltsamen Fall, einer der ungewöhnlichsten, der mir je begegnet ist. Er betrifft, glaube ich, einen Patienten, der unter Ihrer Obhut steht.«
»Darf ich seinen Namen erfahren, Sir?«
»Hinton«, sagte Dr. Mellinger und sah Booth an.
»Hinton, Sir?«
»Sie scheinen überrascht«, fuhr Dr. Mellinger fort, bevor Booth etwas sagen konnte. »Ich finde diese Reaktion ziemlich interessant.«
»Die Suche ist noch in vollem Gang«, bemerkte Booth unsicher, während Dr. Mellinger wartete, um seine Erklärungen zu verarbeiten. »Leider muß ich zugeben, daß wir bis jetzt nicht die geringste Spur von ihm gefunden haben. Dr. Normand meint, wir sollten –«
»Ach, ja, Dr. Normand.« Der Direktor wurde plötzlich hellwach. »Ich hatte ihn gebeten, sobald er Zeit hat, mit Hintons Akte zu mir zu kommen. Dr. Booth, ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, daß wir vielleicht den falschen Hasen jagen?«
»Wie, bitte –?«
»Ist es tatsächlich Hinton , hinter dem wir her sind? Ich überlege mir, ob sich hinter der Suche nach Hinton nicht vielleicht irgend etwas Größeres und Bedeutenderes verbirgt, das Rätsel, wie ich schon gestern erwähnte, das im Herzen von Green Hill verborgen liegt und für dessen Lösung wir uns jetzt alle einsetzen müssen.« Dr. Mellinger kostete diese
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