Sieben Siegel 00 - Jenseits des Jahrtausends
den Dächern leuchteten weiße Schneehauben. Am Stadttor standen Krieger mit Lederpanzern, Fellmänteln und Schwertern, die jeden, der hinaus- oder hineinging, gründlich begutachteten. Als die Männer Goten erkannten, wurden sie bleich und machten hastig den Weg frei.
Während der vergangenen Wochen waren sie durch mehrere Dörfer gereist, doch nirgends war Goten in seiner Funktion als Richter und Hexenjäger tätig geworden. Sie hatten in Wirtshäusern gegessen, am Kaminfeuer die Kälte des Februars ausgetrieben und auf strohgestopften Betten geschlafen wie jeder andere Durchreisende. Doch überall waren die Menschen still und ängstlich geworden, wenn ihnen klar wurde, wer sich da in ihrer Mitte aufhielt. Doch Goten hatte über niemanden Recht gesprochen – und das, obgleich mehrfach Männer und Frauen mit üblen Verleumdungen an ihn herangetreten waren. Goten hatte sie alle fortgeschickt.
In dieser Stadt aber, das spürte Dea auf Anhieb, wartete Arbeit auf den Hexenjäger. Es war fast, als würden die Abfälle und offenen Kloaken in den Gassen mehr als nur üblen Geruch verbreiten. Der Odem des Bösen schien zwischen den Häusern zu hängen wie eine feine Nebelbank. Es roch förmlich nach Tod und Verdammnis.
Der offensichtlichste Grund dafür waren die Menschen selbst. Sie hatten ihre Stadt verkommen und ihre Häuser verfallen lassen. Die Angst vor dem vermeintlichen Weltuntergang war hier schlimmer als an jedem anderen Ort, den Dea und Goten passiert hatten. Niemand kümmerte sich mehr um die Instandhaltung der Gebäude, weil ohnehin jeder glaubte, dass er das nächste Jahr nicht mehr erleben würde. Was nutzten einem am Tag des Jüngsten Gerichts die schönsten und reinlichsten Straßen, wenn man selbst von Gottes Zorn hinweggefegt wurde?
Überall lagen Berge von Dreck und Unrat. Die meisten Leute stanken erbärmlich, wenn man an ihnen vorüberging. Zerschlissene Kleidung wurde längst nicht mehr ausgebessert, Krankheiten nicht mehr behandelt. Alles steuerte dem baldigen Ende entgegen.
Immer wieder kam der Pferdekarren an Menschenaufläufen vorbei, die sich zu Pilgerzügen ins Heilige Land formierten. Die Menschen verließen ihre Heimat und erhofften sich vor den Toren Jerusalems segensreiche Rettung. Fanatische Schreihälse, die sich selbst Prediger nannten, stachelten die Menschen zu Panik und Verzweiflung auf. Fast täglich, so erfuhren Dea und Goten von einem Stadtgardisten, brachen neue Pilgerströme gen Süden auf, ließen verlassene Häuser, oft sogar ihre Familien zurück.
Die Lage war schlimm, viel schlimmer, als selbst Goten es sich vorgestellt hatte.
»Wenn nicht Gott der Welt den Untergang bringt, dann werden das wohl die Menschen selbst erledigen«, schimpfte er und warnte Dea davor, sich von der allgemeinen Niedergeschlagenheit anstecken zu lassen.
Dabei wäre dieser Ratschlag gar nicht nötig gewesen. Dea hatte nicht viel mehr als Verachtung übrig für Menschen, die sich derart gehen ließen. Verachtung, aber auch ein wenig Mitleid. Die Prediger, die an jeder Straßenecke standen und ihre schrecklichen Prophezeiungen auf das Volk herabbrüllten, waren der wirkliche Quell allen Übels. Sie schürten die Panik, sie führten die Leute fort in die Fremde. Es war längst an der Zeit, ihnen das Handwerk zu legen.
Wie sich bald herausstellte, war genau das der Grund, der Goten in die Stadt geführt hatte. Und nicht nur ihn allein. In der Zitadelle der Stadt fand eine Versammlung der Richter und Hexenjäger statt, auf der beschlossen werden sollte, wie man dem Übel der Wanderprediger Einhalt gebieten wollte. Der mächtigste aller Hexenjäger hatte zu dieser Versammlung geladen, ein Mann, der sich nur vor dem Papst persönlich verantworten musste. Goten hatte seinen Namen erwähnt, aber Dea hatte ihn wieder vergessen.
Was soll’s, dachte sie. Sie hatte sowieso nicht vor, diesen furchtbaren Menschen kennen zu lernen. Stattdessen nahm sie sich vor, die Stadt zu erkunden.
Goten setzte sie am Fuß der Zitadelle ab und gab ihr ein paar Ermahnungen mit auf den Weg, wovor sie sich an einem Ort wie diesem in Acht nehmen müsse. Dann lenkte er Karren und Ross durch das Tor der Burganlage. Dea blieb allein auf dem Vorplatz zurück.
Aufmerksam schaute sie sich um. Das wilde Treiben der Städter verwirrte sie noch immer. So viele Menschen! So viele Stimmen, die alle durcheinander redeten!
Der Schnee auf dem Platz war platt getrampelt und schlammig. Die Menschen waren in Felle und dicke Leinenmäntel
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