Sieben Siegel 00 - Jenseits des Jahrtausends
gehüllt – zumindest jene, die es sich leisten konnte. Aber es gab auch Bettler und Kranke, die halb tot am Fuß der Mauern lagen, mit Gesichtern, die blau waren vor Kälte, und mit abgefrorenen Fingern und Zehen.
Dea hatte immer geglaubt, Städte müssten herrliche, prachtvolle Orte sein, doch diese hier bot nur ein Bild des Elends und der Not. Selbst die Reichen, die achtlos an den Erfrierenden vorüberstapften, wirkten bedauernswert in ihrer Gleichgültigkeit.
Ein wenig unsicher, aber auch fasziniert machte sich Dea auf den Weg. Sie trug warme Stiefel, ein langes Wams, das über ihre Hose fast bis zu den Knien reichte, und einen weichen Fellumhang, den Goten für sie gekauft hatte. Er sorgte gut für sie, und sie fand, dass er sich große Mühe gab, ihr ein echter Vater zu sein. Vieles, was er tat, um ihr zu zeigen, dass er sie mochte, wirkte ungeschickt und linkisch, aber gerade das verriet ihr, wie ernst es ihm war.
Dabei hatte sie manchmal durchaus das Gefühl, dass er selbst nicht damit gerechnet hatte, sie zu mögen. Die Verantwortung für eine Tochter war auch für ihn etwas Neues, Ungewohntes. Aber er tat sein Bestes, und allein das zählte. Gewiss, an manchen Tagen war er streng und mürrisch, aber Dea war kein Mädchen, das ständig jemanden zum Reden brauchte. Wenn sie merkte, dass er schlechte Laune hatte, dann ließ sie ihn einfach in Ruhe, stöberte in den Bücherkisten auf der Ladefläche des Karrens oder schaute sich die handgemalten Bilder in seiner wertvollen Bibel an. Noch konnte sie nicht selbst darin lesen, aber sie gab sich große Mühe, es zu erlernen. Goten hatte ihr versprochen, dass sie, wenn sie so gelehrig blieb wie bisher, bis zum Sommer so weit sein würde.
Im Augenblick aber dachte sie nicht an Bücher, sondern versuchte, auf eigene Faust etwas über die Welt um sie herum herauszufinden. Vom Vorplatz der Zitadelle bog sie in eine der Seitengassen ein. Ihr fiel auf, wie wenig Kinder es hier gab. Jene, die sie sah, wirkten arm und heruntergekommen. Einige hantierten bedrohlich mit Messern und Stöcken herum, so als warteten sie nur darauf, über irgendeinen reichen Kaufmann herzufallen.
Schließlich kam sie auf einen weiten Platz, größer noch als der am Fuß der Zitadelle. An den Rändern standen Marktbuden, aber die meisten waren verlassen. Im Zentrum des Platzes hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Die Leute standen rund um ein hölzernes Podest, von dem aus ein einzelner Mann über ihre Köpfe hinwegschaute und dabei eine lautstarke Rede hielt. Er trug eine weiße Kutte und einen breitkrempigen hellen Hut. In seiner Hand hielt er einen langen Stab, dessen Spitze in einem Kreuz auslief.
Noch ein Prediger, dachte Dea abfällig.
Das Gesicht des Mannes wurde vom Schatten des Hutes verdunkelt. Dennoch konnte Dea erkennen, wie schmal seine Züge waren. Von ferne sah es aus, als hätte er keine Lippen, fast wie ein Reptil.
»Im Heiligen Land erwartet euch die Absolution des Herrn«, rief er mit klangvoller Stimme in die Menge. »Alle Sünden werden euch vergeben, wenn ihr euch meiner Pilgerfahrt anschließt. Am Tag des Strafgerichts wird der Herr erkennen, wer sein treuer Diener war, aber auch, wer lieber daheim geblieben ist, aus Feigheit vor der Mühsal von Gottes Weg. Aber was ist schon die Mühsal gegen das, was euch Sünder im Jenseits erwartet? Schon schüren Dämonen die Feuer der Hölle, schon bringen sie die Marterwerkzeuge zum Glühen, mit denen sie euch quälen werden.«
Ein furchtsames Raunen ging durch die Menge. Dass ein Prediger ihre geheimsten Ängste aussprach, setzte den Leuten zu. Immer mehr schienen bereit zu sein, ihm ins Heilige Land zu folgen.
Dea wandte sich an eine junge Frau, die neben ihr stand und zuhörte. »Wer ist dieser Mann?«
»Die Leute nennen ihn den Weißen«, erwiderte die Frau, ohne ihren Blick von dem Prediger zu nehmen. »Er wird uns allen das Heil bringen.«
»Einfach nur ,der Weiße’? Hat er keinen richtigen Namen?«
Die Frau blickte unwirsch auf Dea herab. »Was zählt ein Name schon im Angesicht des Untergangs?«
»Aber es wird keinen –«. Dea unterbrach sich selbst. Es hatte keinen Sinn, gegen die Überzeugung der Frau anzureden, erst recht nicht an diesem Ort. Die Leute würden sie nur auslachen – oder Schlimmeres mit ihr anstellen.
Stattdessen fragte sie die Frau: »Wirst du mit ihm ziehen?«
Die Antwort kam schnell und herablassend:
»Natürlich.«
»Hast du keine Angst vor dem weiten Weg ins Heilige
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