Sieben Siegel 00 - Jenseits des Jahrtausends
Land?« Dea hatte nicht die geringste Vorstellung, wie weit es bis dorthin tatsächlich war. Sie wusste nur, dass unterwegs Berge und Meere überquert werden mussten.
»Der Weiße wird uns sicher führen«, sagte die Frau voller Zuversicht. »Wer die eigenen Ziele und Wünsche vergisst und seinem Wort folgt, dem kann nichts passieren.«
Dea war erschüttert, wie viel Macht eine bloße Rede über die Leute zu haben schien. Andererseits: Wer Angst hatte, der glaubte wahrscheinlich fast alles, was man ihm erzählte – solange man ihm nur gleichzeitig seine Rettung versprach.
Sie beschloss, sich ein Stück näher zum Podest des Predigers vorzudrängeln. Die Menschen waren so gebannt von der Rede des Mannes, dass sie kaum bemerkten, wie Dea sie knuffte oder beiseite schob.
Nach einer Weile war sie weit genug gekommen, um dem Weißen geradewegs ins Gesicht zu schauen. Sie hatte erwartet, dass bei näherer Betrachtung irgendetwas Ehrfurcht Gebietendes an ihm sein würde. Augen, die Vertrauen einflößten, oder ein freundliches Lächeln. Doch der Weiße besaß nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil: Dea fand, dass er böse und hinterhältig wirkte. Um nichts in der Welt hätte sie sich seiner Führung anvertraut. Da fürchteten sich die Menschen also vor einem Mann wie Deas Vater und folgten doch zugleich scharenweise einer verschlagenen Gestalt wie dem Weißen!
Der Prediger redete und redete, aber Dea hörte kaum zu. Sie konnte nur dieses finstere, reptilienhafte Gesicht anstarren.
Je länger sie hinsah, desto deutlicher erschien ihr der Kopf des Weißen wie der einer Giftschlange. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen, konzentrierte sich ganz auf seinen Blick. Verflixt, waren das nicht geschlitzte Pupillen? Und waren seine Zähne nicht spitz und scharf wie die eines Raubtiers?
Großer Gott, tatsächlich, sein Gesicht veränderte sich! Es verschob sich mehr und mehr zu einer grauenvollen Monstrosität, nicht Echse, nicht Wolf, sondern etwas ganz und gar Fremdes, das Dea eiskalte Schauder über den Rücken jagte.
Panisch schaute sie sich um. Warum, zum Teufel, bemerkte es keiner der anderen? Immer noch lauschte die Menge andächtig den verführerischen Worten des Predigers. Niemand schien das zu sehen, was Dea sah – eine Kreatur, die alles Mögliche sein mochte, nur kein Mensch!
Und dann traf sie der Blick des Weißen.
Er schaute nicht etwa wahllos über seine Zuhörerschaft und streifte dabei Dea. Nein, er schien sie direkt aus der Menschenmeute auszuwählen, starrte kalt auf sie herab. Sie fühlte, wie sich etwas in ihr Bewusstsein bohrte, geschliffen scharf wie eine Klinge aus Kristall. Und ebenso mörderisch.
Doch plötzlich geschah etwas Sonderbares.
Der Weiße zuckte zusammen. Ein, zwei Atemzüge lang kam seine Rede ins Stocken. Das Stechen in Deas Kopf hörte abrupt auf; fast, als wären die Geistwaffen dieses Wesens auf etwas gestoßen, das es zum Rückzug zwang.
Dea blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie warf sich auf der Stelle herum und floh. Achtlos drängte sie sich durch die Menge, trat und schubste, bis man sie durchließ. Hinter ihr ergriff der Weiße erneut das Wort, und halb erwartete sie, dass er die Menschen gegen sie aufbringen würde. Haltet sie!, hörte sie ihn in Gedanken rufen. Lasst sie nicht entkommen!
Aber der Weiße sagte nichts dergleichen. Ruhig fuhr er mit seiner Ansprache fort und schenkte Dea keine weitere Aufmerksamkeit. Doch als sie einmal kurz über die Schulter schaute, sah sie, dass er ihr verstohlen hinterherstarrte. Sie konnte fühlen, wie er sich ihr Gesicht einprägte. Ihren Körper. Ihre Bewegungen. Er würde sie finden, würde sie wieder erkennen, würde sie – Vor ihr endete die Menschenmenge, und Dea verdrängte alle weiteren Gedanken an den Dämon oben auf dem Podium.
Alles, was sie denken konnte, war, dass sie zu ihrem Vater musste. Goten würde wissen, was zu tun war. Vielleicht konnte er die Menschen auf dem Marktplatz noch retten, bevor sie sich dem Zug des Weißen anschlossen – einer Pilgerfahrt, die ganz gewiss nicht im Heiligen Land enden würde. Wohl eher in der Hölle.
Sie rannte wie eine Besessene durch die Gasse, vorbei an Häusern, quer über Straßen, bis sie schließlich den Vorplatz der Zitadelle erreichte. Sie wäre wohl auch einfach durch das offene Portal auf den Innenhof gestürmt, hätte nicht einer der Wachmänner sie aufgehalten.
»Wohin?«, fragte er barsch, aber seinem Gesichtsausdruck war bereits anzusehen, dass er sie
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