Sieben Siegel 00 - Jenseits des Jahrtausends
dann machte sie sich auf, ihren Vater zu suchen. Vor der Tür seiner Kammer blieb sie stehen und horchte am Holz. Von der anderen Seite drang kein Laut herüber. Im ersten Moment wollte sie wieder gehen und es im Stall versuchen. Sie wusste, dass er manchmal dort hinunterging und bei seinem treuen Ross im Stroh saß, leise auf das Tier einredete oder einfach nur ins Leere blickte und nachdachte. Zweimal hatte sie ihn bei einer solchen Gelegenheit dort angetroffen.
Ohne große Hoffnung hob sie die Hand und pochte an die Tür.
»Wer ist da?«, ertönte von innen Gotens Stimme.
Dea seufzte erleichtert. »Ich«, sagte sie leise, »Dea.«
Er ließ sie ein, verriegelte die Tür und schloss Dea dann lange in seine Arme. »Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Ich … wir hätten uns öfter sehen sollen.«
»Es gab kaum Gelegenheit dazu«, entgegnete sie. Gerne hätte sie kühl und distanziert geklungen, doch das gelang ihr nicht. Sie war viel zu froh, endlich wieder allein mit ihm zu sein – soweit man an diesem Ort überhaupt von Alleinsein sprechen konnte. Es bestand immer die Gefahr, dass Abakus mit magischen Ohren durchs Gestein lauschte.
Himmel, durchfuhr es sie, du benimmst dich schon wie Morgwen!
Sie setzten sich vors flackernde Kaminfeuer, inmitten zahlreicher Schriftrollen und aufgeschlagener Bücher. Dea musste Goten alles über ihre Ausbildung erzählen. Nur wenn sie etwas sagen wollte, das vielleicht den wahren Grund ihrer Reise zur Festung des Arkanums verraten hätte, legte Goten blitzschnell einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr, still zu sein.
»Wir werden bald zum Versammlungsort der Meister des neuen Jahrtausends aufbrechen«, sagte er schließlich. »Aber das weißt du ja.«
Dea nickte. »Am letzten Tag des letzten Mondes des letzten Jahres. Das Einzige, was man mir noch nicht gezeigt hat, ist das Tor, durch das wir gehen werden.«
»Die Meister versammeln sich an einem Ort, der so weit von hier entfernt ist, dass man ihn zu Fuß oder auf Pferden in einem ganzen Leben nicht erreichen könnte«, erklärte Goten. »Er befindet sich in einer anderen Welt.«
»Ich weiß«, meinte Dea. Morgwen hatte ihr beigebracht, dass es viele Welten wie diese hier gab, und auf allen herrschte ein beständiger Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Und obwohl die Meister des neuen Jahrtausends über die Zukunft von Deas Welt bestimmten und sie sogar tausende Jahre lang selbst durchstreift hatten, hielten sie ihre Versammlung doch anderswo ab. Denn nur dort, so glaubten sie, konnten sie das Ritual des Geschichtenerzählens ungestört vollziehen.
»Das Tor, durch das wir gehen werden«, fuhr Goten fort, »ist ein magisches Tor. Ein Portal zwischen den Welten, das Abakus nur für diesen Zweck erschaffen wird.«
So viel hatte Dea bereits gewusst. Ein Rätsel blieb ihr jedoch, auf welche Weise Abakus das Portal schaffen und öffnen würde. Nichts von dem, was sie in den vergangenen zehn Monden gelernt hatte, hätte sie zu einem solchen Zauber befähigen können.
Aber Abakus war der Herr des Arkanums, der Großmeister der Finsternis. Ihm gehorchten Mächte, von denen die anderen Hexen nur träumten. Dea schauderte erneut bei dem Gedanken an das, was Morgwen zu ihr gesagt hatte – dass sie eines Tages ebenso mächtig sein mochte wie Abakus. Würde auch sie dann Tore zwischen den Welten öffnen können? Sie hatte Angst davor. Immer wieder kam ihr dabei derselbe Gedanke: Wenn es dem Arkanum gelänge, in die andere Welt überzuwechseln, konnte dann nicht auch etwas von dort hierher gelangen? Und wer wusste schon, ob die Schrecken dort draußen nicht viel größer und gefährlicher waren als alles, was Dea und Goten und jeder andere Mensch sich auszumalen vermochten?
Nein, es war keine Frage von Gut oder Böse, ein solches Portal aufzustoßen – es war ein Fehler, schlicht und einfach. Davon war Dea überzeugt.
Sie und ihr Vater redeten noch eine Weile länger, dann nahmen sie Abschied. Zu gerne hätte Dea ihn gefragt, was er und der Hexenmeister all die Monde lang zu besprechen gehabt hatten. Was hielt Goten von Abakus’ Plan, die Stelle der Meister des neuen Jahrtausends einzunehmen und selbst die Geschicke der Welt zu bestimmen? Und, wichtiger noch, was gedachte er, dagegen zu unternehmen?
Doch all diese Dinge mussten unausgesprochen bleiben. Sie hatten es zu lange in der Festung des Arkanums ausgehalten, um jetzt alles aufs Spiel zu setzen. Dea konnte nur abwarten, was ihr Vater tun
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