Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
»Wir gehen an der Wand entlang, hinter den Säulen. Vielleicht merken die Hexen dann nicht, dass wir abhauen.«
»Und Abakus?«, fragte Nils. »Sollten wir nicht versuchen –«
Lisa unterbrach ihn. »Versuchen, ihn zu vernichten?« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Wir würden wahrscheinlich in Schleim ertrinken !«
»Erstmal raus hier«, meinte auch Kyra. »Danach sehen wir weiter.«
Nils gab nach, und insgeheim tat er es nur zu gern.
Sie schlichen los, hinter den Säulen entlang, genau wie Kyra es gesagt hatte. Dabei blickten sie immer wieder zu den Hexen hinüber, die nur wenige Meter entfernt ihre Beschwörung vollzogen. Das Zucken ihrer geschmeidigen Körper war schneller geworden, hektischer. Ihre Bewegungen erinnerten jetzt an Schlangen, die von einem Fakir aus ihrem Korb gelockt wurden.
Die Ritzen in der Oberfläche des Sarkophags glühten immer heller, wie Heizstäbe in einem Backofen.
Die Freunde hatten fast den Fuß der Wendeltreppe erreicht, als Nils plötzlich murmelte:
»Der dritte Fisch! Wo ist der verfluchte dritte Fisch – der, den wir verletzt haben?«
Noch während er sprach, lud er die Steinschleuder mit einem weiteren Kiesel aus seiner Hosentasche.
Aller Augen tasteten durch die dunklen Winkel der Krypta. Die teuflische Kreatur mochte überall lauern.
»Kommt, weiter!«, zischte Kyra. »Oder wollt ihr hier rumstehen, bis er uns angreift?«
Lisas Augen starrten angstvoll in die Schatten.
»Nur raus hier«, flüsterte sie tonlos.
Nils ging als Letzter, die gespannte Schleuder feuerbereit. Auf seinen Wangen glänzte silberner Schleim. Es sah aus, als wären ihm dort Fischschuppen gewachsen.
Hinter ihnen verstummte schlagartig das Gemurmel der Hexen.
Einige Herzschläge lang herrschte vollkommene Stille. Sogar die Freunde verharrten auf den unteren Treppenst u fen.
Wie in Zeitlupe drehten sie die Köpfe, schauten über die Schultern nach hinten.
Das Licht aus den Fugen des Sarkophags blendete sie wie gleißende Sonnenstrahlen – mit dem Unterschied, dass dieses Licht nicht vom Himmel herabschien. Es erstrahlte aus den tiefsten Schlünden der Hölle.
Ein Netz flirrender Glutbahnen legte sich über den Steinkörper auf den Sarkophagdeckel, verästelte sich immer weiter, ein Spinnennetz aus Feuer.
Lisa schrie voller Schrecken auf.
Die Gesichter der drei Hexen fuhren zu den Kindern herum. Erkannten, dass sie fliehen wollten. Funkelten vor Hass und Verschlagenheit.
Ein langes Donnern ertönte, erst leise, dann immer lauter. Es klang wie ein Düsenjet, der aus großer Entfernung näher kam. Etwas raste heran, herauf aus unvorstellbaren Tiefen.
Das Gesicht der Steinfigur zuckte. Ihr Lächeln wurde breiter, doch nicht länger erschien es gütig und gnadenvoll. Jetzt wirkte es triumphierend, voller Hohn und listigem Spott.
Granitfinger bewegten sich. Stofffalten aus Stein begannen zu wallen. Der graue Bart teilte sich in einzelne Haare, borstig wie Spinnenbeine. Abakus schlug die Augen auf. Augen aus Stein, kalt und gefühllos.
Ein zuckender Adamsapfel wölbte sich aus dem porösen Hals. Die Wangen fielen ein, die Augenbrauen zogen sich an den Seiten nach oben. Aus seinen Fingerspitzen wuchsen Nägel so scharf wie Rasierklingen, so lang wie Küchenmesser.
Abakus richtete sich auf.
Die Hexen kreischten in Ekstase.
Die Kinder schrien vor Entsetzen.
Die Steinaugen des Magisters richteten sich auf die Flüchtenden. Seine Stimme klang wie ein Sturmwind, der durch die Türme einer Burgruine rast.
»Und sehet«, verkündete er eisig, »Abakus ist heimg e kehrt!«
Die Sieben Siegel
Chris hatte die Nase gestrichen voll.
Allmählich verlor er die Lust an diesem Abenteuer. Kyras Tante hatte es bislang nicht für nötig gehalten, auch nur eine seiner zahlreichen Fragen zu beantworten. Hatte er sie nicht gerade erst aus dem Turm befreit, vielleicht gar ihr Leben gerettet? Ja, natürlich hatte er! Aber behandelte sie ihn deshalb vielleicht wie einen Helden? Oder hatte sie auch nur ein schlichtes ›Danke‹ für ihn übrig? Nichts dergleichen! Stattdessen ließ sie ihn dieses blöde Buch durch die Gegend schleppen, ganz so, als wäre er ihr Packesel.
Die beiden erreichten den Haupteingang der Kirche. Kyras Tante zögerte kurz, dann legte sie eine Hand auf den schweren Eisenring.
»Bist du bereit?«, fragte sie, ohne Chris anzusehen.
»Bereit für was?«, erwiderte er missmutig.
Sie lächelte. »Du bist bereit.«
Und mit diesen Worten stieß sie die Tür auf.
Weihrauchgeruch
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