Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
den Zugang mit schweren Balken und Stahlstangen versperrt. Trotzdem gab es einen Spalt, der breit genug war, dass sich ein Kind hindurchzwängen konnte.
Hundert Meter hinter dem Hügelgrab erhob sich der Waldrand wie ein finsterer Riss in der Wirklichkeit. Kyra wandte sich nach Süden und streifte über Wiesen, auf denen sich saftiges Gras im Abendwind bog. In den hohen Hecken, die zwischen den Feldern und Weiden verliefen, raschelte es geheimnisvoll; Vögel, die zum Abend in ihre Nester heimkehrten, schlüpften durch Löcher im Geäst und verschwanden in der Dunkelheit. Kyra kannte jede dieser Hecken, sie wusste, welche von ihnen dicht und dornig war und in welcher man sich gefahrlos verstecken konnte. Sie liebte Hecken, von ihr aus hätte die ganze Welt voll davon sein können. Überall Hecken, überall Verstecke, überall schattige Tunnel unter Gewölben aus Laub.
Inmitten der Wiesen, auf halber Strecke zwischen dem Hügelgrab und Giebelstein, verlief ein hoher Bahndamm. Die Zugstrecke war schon seit vielen Jahrzehnten stillgelegt, die Gleise mit Moos und Buschwerk überwuchert. Der Bahndamm thronte etwa sechs Meter über den Feldern, seine steilen Hänge waren mit Brombeergestrüpp und Wildblumen bedeckt. Lupinen senkten im Abenddunkel ihre violetten Blüten, Windröschen und Springkraut leuchteten in der Dunkelheit. Wohin die rostigen Gleise führten, und woher sie kamen, wusste weder Kyra noch eines der anderen Kinder. Auf den Karten in ihren Schulatlanten war diese Verbindung nicht eingetragen, wahrscheinlich war sie zu alt, noch aus dem letzten Jahrhundert. Da keine Bahn mehr diese Strecke befuhr und höchstens Marder und Eichhörnchen über die Schienen huschten, interessierte sich niemand mehr dafür. Irgendwann einmal, das hatte Kyra sich fest vorgenommen, würde sie den Schienen folgen, würde weitergehen und weitergehen, bis sie sah, was an ihrem Ende lag. Vielleicht eine verlassene Bahnstation, unkrautüberwuchert und rätselhaft, in der die Geister toter Reisender spukten.
Es war hier, auf diesem Bahndamm, an diesem Freitagabend und im Halblicht des zunehmenden Mondes, wo die Ereignisse ihren Anfang nahmen.
Gerade noch rechtzeitig sah Kyra die Gestalt, die einsam zwischen den Gleisen stand. Hastig zog sie sich zurück zwischen die Brombeerbüsche, machte sich ganz klein und sah zu, was dort draußen vor sich ging.
Die Frau war sehr schlank und sehr schön. Selbst Kyra, die sonst nicht auf derlei Nebensächlichkeiten achtete, musste sich das eingestehen. Im Mondschein war die Haut der Fremden weiß und ebenmäßig, langes schwarzes Haar fiel wie ein Umhang über ihren Rücken. Obwohl keine fünf Meter die beiden voneinander trennten, hatte die Frau das Mädchen noch nicht bemerkt. Sie trug einen kurzen Rock und dunkle Strumpfhosen, außerdem eine sehr knappe Jacke aus Samt. Sie schien nicht zu frieren. Vor ihr am Boden stand eine große Handtasche aus Krokodilleder. Das hässliche Ding war weit geöffnet, ein breites, zahnloses Maul mit Schnappverschluss.
Kyra hatte Hunger, auch wenn sie zu Hause nur Tante Kassandras Gemüseeintopf erwartete, und so hatte sie den Bahndamm ziemlich hastig erklommen. Weil der Hang steil anstieg, war sie jetzt ganz schön außer Atem. Sie versuchte, die Luft anzuhalten, damit die Frau sie nicht hörte, aber das machte es nur noch schlimmer: Schon nach ein paar Sekunden musste sie heftig ein- und ausatmen, viel zu laut und abgehetzt.
Doch falls die Frau sie hörte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie hatte das Gesicht zum Himmel gewandt, so, als gäbe es dort oben etwas ungemein Interessantes zu sehen. Dabei lächelte sie. Mondlicht blitzte auf ihren weißen Zähnen. Kyra lief ein Schauder über den Rücken, obwohl es eigentlich gar nichts gab, vor dem sie sich hätte fürchten müssen.
Nur eine geheimnisvolle Frau in der Dunkelheit. Allein auf einem stillgelegten Bahndamm. Mit einer offenen Krokodilledertasche vor sich im Gras.
Nein, keine Gefahr. Nicht einmal eine kleine Bedrohung. Davon war Kyra überzeugt – ungefähr zehn Sekunden lang! Dann nämlich folgte sie dem Blick der Frau und schaute hinauf zum Abendhimmel.
Hoch oben jagten sich zwei Vögel. Der eine war ein Raubvogel, ein Bussard. Das Sonderbare war, dass er nicht der Jäger war – nein, der Bussard wurde gejagt. Noch merkwürdiger erschien es Kyra, dass der zweite Vogel silbrig glitzerte, so, als wäre er aus Metall.
Das Lächeln der Fremden wurde breiter, jetzt kicherte sie leise. Es
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