Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
genug.«
Alle drei kicherten wieder wie verknöcherte Greisinnen.
So sehr die Worte der Hexen die Kinder auch ängstigten, hatten sie ihnen doch unbeabsichtigt einen wichtigen Hinweis gegeben: Falls Tante Kassandra wirklich das erste Opfer hatte sein sollen, musste sie noch am Leben sein. Gewiss war sie auch nicht in irgendetwas Schreckliches verwandelt worden, denn der mächtige Abakus würde gewiss nicht glücklich sein, wenn man ihm eine Kröte oder ein Frettchen als Opfergabe anbot.
»Abakus wird euer Blut trinken«, sagte eine Hexe.
»Damit er zu Kraft kommt«, setzte eine andere hinzu.
»Blut und Kraft!«, brüllte die dritte mit sich überschlagender Stimme, und sogleich fielen die beiden anderen mit ein.
»Blut und Kraft! Blut und Kraft!«, riefen alle drei immer wieder, bis den Kindern klar wurde, dass es sich um eine Anrufung handelte, um ein Gebet an den Teufel. Das Ritual hatte begonnen.
»Wir müssen irgendwas unternehmen«, flüsterte Lisa mit schwacher Stimme.
»Tolle Idee«, meinte Nils kläglich. »Irgendwelche Vorschläge?«
Ein Fliegender Fisch schoss auf ihn zu und ließ nur eine Handbreit vor seinem Gesicht die Zähne zusamme n schnappen. Nils zuckte erschrocken zusammen und riss den Kopf zurück. Der Fisch drehte warnend eine Runde um Nils’ Schultern, dann ging er wieder auf Abstand.
Doch trotz seiner Furcht gab Nils sich noch nicht geschlagen. Er stieß Kyra unauffällig mit dem Ellbogen an.
»Kannst du sie ablenken?«, zischte er und bewegte dabei kaum die Lippen. Die Fische hatten scharfe Augen, schienen jedoch so gut wie taub zu sein.
Auch Kyra gab sich Mühe, den Mund beim Flüstern stillzuhalten. »Was soll ich tun?«, fragte sie mit gefurchter Stirn. »Laut singen oder so was?«
»Von mir aus.« Nils drehte sich langsam mit dem Rücken zu ihr, stieß sie sachte mit dem Oberschenkel an und zog den Saum seines Sweatshirts ein paar Zentimeter nach oben.
Kyra erkannte, auf was er hinauswollte. Aus einer Hintertasche seiner Jeans ragte das hölzerne Ypsilon einer selbst gebastelten Steinschleuder.
»Du hast sie mitgenommen!«, entfuhr es ihr euphorisch, und diesmal schossen gleich beide Fische vor und zeigten Kyra ihre nadelspitzen Zahnreihen.
Nils trat endlos langsam einen Schritt nach hinten, bis er mit dem Rücken nah an der Wand stand. Er versuchte, dabei so auszusehen, als weiche er aus Angst vor der Zeremonie der Hexen zurück – was ihm nicht besonders schwer fiel, denn Angst hatte er in der Tat ganz beachtliche.
Er schob seine rechte Hand in die vordere Hosentasche und zog ganz, ganz langsam etwas hervor. Zwei flache Kieselsteine. Er hielt sie fest mit der Faust umklammert.
Das Ritual der Hexen ging allmählich seinem Höhepunkt entgegen. Alle drei hatten die Arme ausgebreitet und die Köpfe in den Nacken gelegt. Ihre Augen waren geschlo s sen, und über ihre Lippen kamen Beschwörungsformeln in fremden Sprachen.
Kyra überlegte fieberhaft, was sie tun konnte, um die Fische von Nils abzulenken. Schließlich plapperte sie einfach drauflos:
»Ist das etwa alles?«, fragte sie laut und versuchte, die Fische dabei nicht anzusehen. »Nur ein paar Zauberspr ü che, und schon kehrt der große Abakus zurück? Müssen dafür nicht irgendwelche Sterne ein bestimmtes Muster bilden? Oder wie wär’s mit einer Sonnenfinsternis? In Filmen ist für so was immer eine Sonnenfinsternis nötig!«
Sie trieb ein gewagtes Spiel. Wenn die Fische sie als Strafe für ihr Gerede attackierten, war sie verloren. Kyras einzige Hoffnung war, dass die Hexen Befehl gegeben hatten, die Kinder in Schach zu halten, ihnen aber vorerst keinen Schaden zuzufügen.
Abrupt rasten die Fische auf Kyra zu. Einer verharrte um Haaresbreite vor ihrer Nasenspitze und riss das Maul zu voller Weite auf. Der Gestank nach verfaulten Algen war entsetzlich.
Mit einem abrupten Schlag ihrer Flughäute machte die Kreatur einen weiteren Satz auf Kyra zu – und stülpte ihren riesigen Schlund über Kyras Gesicht!
Einen Moment lang war Kyra überzeugt, sie würde nun sterben. Ja, gar kein Zweifel – sie war tot! Ihre Gedanken blieben dabei sachlich, beinah gelassen. Alle Angst wich für ein, zwei Sekunden von ihr. Tot … mausetot …
Sie konnte die Spitzen der Fischzähne unter ihrem Kinn und oben am Haaransatz spüren. Großer Gott, ihr ganzes Gesicht war im Inneren der Bestie!
Aber der Fisch biss nicht zu. Er wollte sie nur warnen. Seine Zähne ritzten ihre Haut, aber nicht tief genug, um auf Blut zu
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