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Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters

Titel: Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stoßen. Wenigstens hoffte sie das, während ihre Augen in den dunkelroten Schlund der Kreatur starrten. Ein verrückter Gedanke kam ihr in den Sinn: Von außen sah der Fisch so klein aus, aber von innen wirkte er so riesig wie der Weiße Hai.
    Die Vorstellung, dass ihr Kopf im Inneren eines Haifischs steckte, war beinah zu viel für sie. Gewiss, Kyra war mutig, wenn es um das Klettern auf hohe Bäume ging, oder darum, Herrn Schwarzdorn einen Kaugummi aufs Schlüsselloch zu kleben. Aber Hexenfische, die sie bei lebendigem Leibe verschlangen, waren dann doch mehr, als sie ertragen konnte.
    Sie wäre wohl in Ohnmacht gefallen, hätten ihre alarmierten Sinne sie nicht aufrecht gehalten – denn wenn sie jetzt fiel, würde sie ihr Kinn auf den unteren Zahnreihen der Bestie aufspießen!
    Der Gestank! Liebe Güte, so etwas konnte es doch gar nicht geben! Es stank nach altem Fisch. Nach totem Fisch.
    Plötzlich geschah etwas. Sie konnte nicht sehen, was es war, und dennoch spürte sie es ganz deutlich.
    Der Fisch zuckte zurück. Seine Kiefer schnappten vor ihrem Gesicht zusammen wie zwei Fallbeile, die aufeinander krachten. Die Kreatur rotierte einmal um sich selbst und wandte Kyra die Schwanzflosse zu.
    Jetzt erkannte Kyra, was geschehen war. Während die Hexen noch immer in ihre Beschwörung versunken waren, musste Nils seine Steinschleuder hervorgezogen und einen Kieselstein eingelegt haben. Dann, als die Fische durch Kyra abgelenkt waren, hatte er das Geschoss auf eine der Bestien abgefeuert. Kyra sah nicht, wohin das Mistvieh verschwunden war – auf alle Fälle war es fort.
    Nils lud gerade die Schleuder nach, als sich der Fisch, der Kyra bedroht hatte, auf ihn stürzen wollte.
    Lisa quietschte schrill auf, während Kyra – noch immer halb unter Schock – reagierte. Sie riss beide Hände hoch und packte die Kreatur an der Schwanzflosse. Der Fisch war glitschig. Sofort spürte Kyra wieder die beißende Kälte.
    Nils hielt die Schleuder schussbereit.
    »Jetzt!«, rief er.
    Kyra ließ den Fisch los. Für einen Sekundenbruchteil zögerte die Kreatur, unsicher, auf wen sie sich stürzen sollte. Dann entschied sie sich für jenen ihrer Gegner, der ihr gefährlicher zu sein schien.
    Mit weit aufgerissenem Rachen schoss sie auf Nils zu.
    Der rote Einmachgummi, mit dem Nils die Schleuder bestückt hatte, zuckte vor. Der Kieselstein sauste los.
    Geradewegs in das offene Maul des Höllenfisches.
    Etwas Seltsames geschah: Der Stein brauchte viel zu lange, ehe er auf Widerstand traf. Fast so, als wäre der Fisch tatsächlich in seinem Inneren mehrere Meter lang, auch wenn es von außen nicht so aussah. Kyra hatte Recht gehabt: Innen war der Fisch mindestens so groß wie ein Hai. Groß genug, ein Kind mit einem einzigen Bissen zu verschlingen.
    All diese Gedanken durchzuckten sie innerhalb einer einzigen Sekunde, genau zwischen dem Moment, in dem sich der Kieselstein von der Gummisehne löste, und jenem triumphalen Augenblick, als das Geschoss seine Wirkung zeigte.
    Der Fisch wurde nach hinten gerissen, als hätte jemand an einer unsichtbaren Schnur gezogen. Seine Augen wurden so groß wie Tennisbälle – und dann ertönte ein furchtbares, platschendes Geräusch.
    Die Bestie zerplatzte wie eine Wasserbombe, zerbarst in einer Wolke aus silbernem Schleim.
    Das eklige Glibberzeug besudelte die Wände, die Decke, den Boden – und die drei Freunde.
    »Buääh!«, machte Nils, als eine Flut von Schleimtropfen auf ihn einprasselte. Auch Lisa sah aus, als hätte sie mit bloßer Hand in das alte Plumpsklo auf dem Hof des Bauern Reineke fassen müssen – Kyra kannte diesen Gesichtsausdruck, weil sie schon mitangesehen hatte, wie ein paar andere Kinder eben dies als Mutprobe absolviert hatten.
     
    Kyras Blick raste zu den drei Hexen. Die Frauen waren in Trance, wiegten sich langsam vor und zurück. Ihre Lippen wisperten Zaubersprüche und Beschwörungen. Sie waren so versunken in ihr Ritual, dass sie noch nichts von den Vorgängen bemerkt hatten.
    Die Fugen des Sarkophags hatten zu glühen begonnen.
    »Was ist aus dem anderen Vieh geworden?«, wollte Kyra wissen, die zu diesem Zeitpunkt ja gerade im Fischmaul gesteckt hatte.
    »Dem ist es genauso ergangen wie diesem hier«, erwiderte Nils.
    »Allerdings war es ein wenig weiter weg«, fügte Lisa mürrisch hinzu und wischte sich Silberschleim von der Stirn. Alle drei rochen wie nasse Hunde, die sich in toten Fischkadavern gewälzt hatten.
    »Wir müssen hier raus«, flüsterte Kyra.

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