Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
Entsetzen das Buch fallen.
»Oh nein!«, entfuhr es Kyra, als sie sah, wie der schwere Lederband am Boden aufschlug.
Doch da waren die vier schon weitergelaufen. Keiner wagte, noch einmal umzukehren und das Buch wieder aufzuheben. Chris fluchte.
Abakus’ Arm schoss vor. Er hatte noch immer die Farbe von Stein, war aber beweglich wie lebendiges Fleisch. Der Arm schien mit einem Mal länger zu werden, streckte sich wie ein Teleskop aus Muskeln und Haut. Seine Finger krallten sich in das Haar der ungehorsamen Hexe, rissen sie zurück. Die Frau kreischte gellend auf und entfernte sich wieder von den Kindern.
Die kalten Augen des Hexenmeisters waren jetzt wie gebannt auf das Buch gerichtet. Einen Moment lang schien er jedes Interesse an den Kindern zu verlieren.
Mit weiten Schritten ging er den Gang hinunter und bückte sich neben dem Buch am Boden. Als der Band auf den Steinplatten aufgeprallt war, hatten sich die Seiten in der Mitte geöffnet. Neugierig musterten Abakus’ Steinaugen die engen Buchstabenkolonnen. Seine messerscharfen Krallen blätterten vorsichtig von Seite zu Seite.
»Das Buch der Namen«, flüsterte er heiser. Dann schaute er auf und blickte die Kinder an. Seine Sprache und sein Tonfall klangen altmodisch. »Wie gelangte es in euren Besitz?«
Niemand gab ihm Antwort. Die vier hatten jetzt das Tor erreicht. Auch von innen ließ es sich nicht öffnen. Noch immer vibrierte es unter Tante Kassandras Schlägen.
Sie waren gefangen.
» A ntwortet! «, zischten die drei Hexen im Chor.
»Wir …«, sagte Kyra zögernd, »… wir haben es gefunden.«
Abakus blätterte weiter. Seine Blicke überflogen die handgeschriebenen Namen. Schließlich kam er an die Seite, unter der das Geheimfach verborgen war.
Seine buschigen Augenbrauen hoben sich vor Verblüffung.
»Was ist das?«, murmelte er halblaut zu sich selbst.
Mit einem Fingernagel fuhr er sanft über die Worte, die auf dem Deckblatt geschrieben standen:
Mater Tenebrarum Mater Suspiriorum Mater Lacrimarum
Kyra hielt den Atem an. Chris starrte gebannt auf den Hexenmeister. Nils und Lisa lehnten mit dem Rücken am Tor, ihre Züge waren wie eingefroren.
Die Hexen näherten sich ihrem Meister von hinten. Neugier trieb sie voran. Vorsichtig schauten sie über seine Schulter.
»Die geheimen Namen«, flüsterte eine von ihnen.
Abakus’ Kopf fuhr herum. Sein strafender Blick brachte die Hexe zum Schweigen. Dann sah er zu den Kindern herüber. »Ihr ahnt nicht, wie dankbar ich euch bin«, sagte er mit boshaftem Lächeln.
Er hob seine Rechte, holte aus – und bohrte alle fünf Fingernägel durch das Deckblatt. Was Kyra mit einer Schere misslungen war, gelang ihm mit bloßer Hand: Das Papier zerriss. Abakus zerfetzte es mit zwei, drei Schlägen seiner Rasiermesserklauen.
Weißes Licht fiel von unten auf das Gesicht des Hexenmeisters. Es strömte aus dem Geheimfach, als hätte jemand darin einen Scheinwerfer eingeschaltet.
Und dann – ohne dass eines der Kinder begreifen konnte, was geschah – ging alles ganz schnell.
Abakus’ Züge verzerrten sich.
»Eine Falle!«, kreischte er aufgebracht. »Es ist eine Falle!«
Er löste sich von dem Buch, taumelte zurück. Dabei stieß er gegen die Hexen und schleuderte sie achtlos beiseite. Während er selbst zum Altar zurückwich, einen Arm schützend vor das Gesicht gelegt, stolperten die drei Hexen übereinander und stürzten zu Boden.
Das Licht aus dem Buch wurde heller. Verzehrender.
Eine gleißende Lichtkugel, nicht größer als ein Golfball, löste sich aus dem Geheimfach, schwebte empor und raste auf eine der Hexen zu. Weitere Lichter folgten ihr.
Die Frau brüllte auf, als die Glutkugel sie traf. Augenblicke später zerfiel sie zu Asche.
Ihren Gefährtinnen erging es nicht besser. Nur bei der letzten Hexe konnte Kyra erkennen, was vor sich ging: Als die Kugel die Frau berührte, glühten auf deren Haut sekundenlang sieben helle Punkte auf. Dann machte das Licht auch ihr den Garaus.
Bald darauf erinnerte nur noch grauer Staub am Boden an die Existenz der drei Hexen.
Abakus stieß auf seiner Flucht mit dem Rücken gegen den Altar. Er riss den Mund auf, um zu schreien – und die Lichtkugel, die ihm folgte, raste geradewegs in seinen Schlund. Siebenmal blitzten seine Augen hell auf, als gäbe jemand im Inneren seines Schädels Morsezeichen.
Schließlich ertönte ein lautes Krachen und Bersten. Abakus’ Steinkörper explodierte in einer Wolke aus Felssplittern. Ein grauer
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