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Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters

Titel: Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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klang überhaupt nicht wie das Lachen einer jungen Frau, eher meckernd und gemein. Uralt. Und bösartig.
    Der silberne Vogel holte den Bussard ein, und einen Augenblick später verschwanden beide in einer Wolke aus Federn. Eine Schwanzfeder rieselte genau vor Kyras Gesicht vom Himmel und wurde von einem langen Brombeerdorn aufgespießt. Kyra spürte, wie eine Gänsehaut über ihren Körper kroch.
    Nur Federn rieselten zu Boden, nichts sonst. Keine Vogelknochen, keine anderen Überreste. Das Silberding flog einen engen Kreis, dann schoss es abrupt in die Tiefe, genau auf den Bahndamm zu. Einen Moment lang glaubte Kyra, die Kreatur stürze sich auf sie herab. Würde es ihr genauso ergehen wie dem Bussard? Was würde von ihr übrig bleiben? Nur ihr langes rotes Haar, wirre Knäuel, die zwischen den Dornen der Brombeersträucher hingen?
    Aber das Wesen hatte es gar nicht auf sie abgesehen. Einige Meter über dem Boden bremste es seinen Flug, schwirrte in einer Schleife um die Frau auf den Gleisen, dann schoss es in steilem Winkel in die offene Handtasche. Die unheimliche Fremde kicherte erneut, dann bückte sie sich, ließ die Tasche zuschnappen und schob sie sich unter den rechten Arm. Noch einmal schaute sie sich aufmerksam um, dann stieg sie den Bahndamm hinunter und verschwand aus Kyras Blickfeld.
    Kyra hockte stocksteif zwischen den Sträuchern. Ihr war, als hätte die Gänsehaut sich wie ein Eispanzer um ihre Glieder gelegt. Sie fror, und trotzdem schwitzte sie, und erst ganz allmählich konnte sie sich wieder bewegen.
    Als das Silberding um den Oberkörper der Frau gekreist war, hatte Kyra es ganz genau sehen können. Es war kein Vogel gewesen. Nein, es war ein Fisch.
    Ein echter, wahrhaftiger Fliegender Fisch.
    Und trotzdem hatte er ganz anders ausgesehen, als die Fliegenden Fische, die sie aus Büchern und Fernsehberichten kannte. Er war nicht klein und zierlich gewesen, nicht schlank wie eine Messerklinge. Dieser hier war klobiger und irgendwie verwachsen, mit einem langen, kantigen Unterkiefer und mehreren Reihen nadelspitzer Zähne. Aus seiner Stirn hatte eine Art Fühler geragt, ein weißer, widerlicher Wurm mit einem schimmernden Punkt an der Spitze. Jetzt erinnerte sich Kyra, wie das Wesen ausgesehen hatte: genau wie einer dieser scheußlichen Tiefseefische, die man in Tierfilmen oder Monstervideos sieht. Durch und durch scheußlich. Ekel erregend. So, als würde es sich mit Vorliebe in der Kehle eines Menschen verbeißen.
    Aber warum hatte dieser Tiefseefisch, der fraglos aus dem Schwärzesten aller Ozeangräben emporgestiegen war, durchscheinende Flughäute gehabt? Und warum konnte er ohne Wasser überleben und hauste in einer Handtasche aus Krokoleder?
    Und vor allen Dingen: Wer war diese Frau, die kichernd zusah, wie eine so entsetzliche Kreatur am Himmel über Giebelstein Raubvögel jagte?
    Erst ganz allmählich wich Kyras Anspannung. Sie pflückte die Bussardfeder von dem Dorn und legte sie vorsichtig zu Boden, als könnte das irgendwie wieder gutmachen, was mit dem Vogel geschehen war. Dann erhob sie sich und trat vorsichtig aus den Büschen. Gebückt überquerte sie den überwucherten Schienenstrang und blickte auf der anderen Seite über die Wiesen und Hecken, die sich bis zu Giebelsteins erleuchteten Fenstern erstreckten.
    Die Frau mit der Tasche war fort. Keine Spur von ihr.
    Was aber, wenn sie sich zwischen den Hecken verbarg? Wenn sie in diesem Augenblick Kyra beobachtete, über das Reptilleder ihrer Handtasche streichelte und dem Biest darin zuraunte, dass es bald neue Nahrung finden würde? Größere Nahrung?
    Kyra sprang die Böschung hinunter und rannte, so schnell sie konnte, rannte, bis die Weiden hinter ihr zurückblieben und das Haus ihrer Tante wie eine mittelalterliche Fluchtburg vor ihr emporwuchs.
    Sie rannte sogar noch, als sie bald darauf in ihrem Bett lag und einschlief, rannte durch einen Traum voller kleiner, scharfer Zähne, gejagt von etwas, das vielleicht ein Fisch war, vielleicht aber auch etwas viel, viel Schlimmeres.
      
      
    Eine Warnung – na und?
    Am nächsten Morgen, einem Samstag, saßen Kyra, Nils und Lisa in Tante Kassandras Teeladen. Eigentlich hätten sie alle lieber Cola getrunken oder Orangensaft, doch was das anging, kannte Kyras Tante kein Erbarmen. Wie jedes Mal, wenn die drei um den kleinen runden Tisch in der dunkelsten Ecke des Ladens saßen, servierte Tante Kassandra ihren neuesten Tee. Denn Tee – in allen Farben und aus aller Welt, mit allen

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