Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
Gerüchen und in allen Geschmacksrichtungen – war ihre erklärte Spezialität.
»Riecht seltsam«, bemerkte Nils und verzog das Gesicht. Er war strohblond, genau wie seine Schwester Lisa. Allerdings war er ein gutes Jahr älter als sie, und er wurde nicht müde, ihr das unter die Nase zu halten.
Im Augenblick allerdings war Lisas Nase anderweitig beschäftigt. »Irgendwie … exotisch«, sagte sie und schnüffelte an ihrer Tasse.
Kyra schwieg und beachtete die Teetasse vor sich auf dem Tisch überhaupt nicht. Sie blickte gedankenverloren durch das Schaufenster des kleinen Geschäfts auf die gepflasterte Straße.
Gegenüber lag der Buchladen vom alten Herrn Mohr mit seinen staubigen Fenstern und den ewig gleichen Lederbänden in der Auslage. Herr Mohr hatte wahrscheinlich seit fünfzig Jahren keine neue Lieferung mehr bekommen. Wahrscheinlich seit hundert fünfzig.
Nils starrte immer noch seine dampfende Tasse an, wie hypnotisiert von den wallenden Schwaden. »Äh, bitte, was für Tee soll das eigentlich sein?«
Tante Kassandra verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue. »Venusfliegenfallentee«, sagte sie. »Was daran auszusetzen?«
Sie war Mitte dreißig, groß und ziemlich dünn. Auch sie hatte rotes Haar, allerdings nicht ganz so dunkel wie das von Kyra. Sie hatte es zu einer wilden Frisur hochgesteckt, aus deren Spangen und Haargummis überall rote Locken quollen, manche bis über den Ausschnitt ihres Kleides aus beigefarbenem Naturleinen. An jedem Arm trug sie mindestens ein Dutzend Reife und Ringe, die bei jeder Bewegung klirrten wie ein Glockenspiel. Tante Kassandra hatte sehr dunkle Augenbrauen, nicht buschig, allerdings fast schwarz, äußerst ungewöhnlich für eine Rothaarige. In Giebelstein galt sie als Paradiesvogel, nicht nur aufgrund ihres gemütlichen Teeladens, in den sich nur selten ein Kunde verirrte, sondern wegen ihres ganzen Auftretens. Kyra wusste, dass sich viele Männer auf der Straße verstohlen nach ihrer Tante umschauten.
Oft legte Tante Kassandra für andere Leute die Karten und las aus ihnen die Zukunft. Hin und wieder erstellte sie auch Horoskope aus Teeblättern, und manchmal, meist vor dem ersten Mai, kamen junge Männer zu ihr und ließen sich Liebestränke brauen. Außerdem verstand sie einiges von Arzneien. Nicht von den bunten, bitter schmeckenden Pillen, die es in Herrn Reisigs Apotheke gab – nein, Tante Kassandra mischte selbst Medizin aus allerlei natürlichen Zutaten zusammen, und nicht selten war die Wirkung ganz ausgezeichnet.
Nicht ganz so ausgezeichnet waren einige ihrer Tee-Kreationen. Und ihr Venusfliegenfallentee schien dem Geruch nach eindeutig in die Schublade »ungenießbar« zu gehören.
»Also?«, fragte sie und blickte streng auf die drei Freunde herab. »Wie wär’s, wenn ihr endlich mal probieren würdet?«
»Zu heiß«, sagte Nils sehr hastig, Lisa nickte. » Viel zu heiß.«
Tante Kassandra runzelte die Stirn. »Wie steht’s mit dir, Kyra? Du hast doch Durst, oder?«
Kyra hatte das Gefühl, als hätte man sie aus tiefem Schlaf wachgerüttelt. In Gedanken war sie immer noch auf dem Bahndamm, in der Dunkelheit, gestern Abend. Sie hatte bisher niemandem davon erzählt.
»Bitte?«, fragte sie. Sie hatte gar nicht zugehört, worüber die anderen gesprochen hatten.
»Der Tee«, sagte ihre Tante und zeigte mit Nachdruck auf Kyras Tasse. »Du sollst mir sagen, wie er dir schmeckt.«
Kyra beugte sich vor, streckte die Nase in den Dampf und zog eine Grimasse. »Wie er schmeckt, oder wie es sich anfühlt, wenn er mir ein Loch in den Bauch frisst? Was ist das? Säure?«
»Venus – Fliegen – Fallen – Tee«, riefen Nils und Lisa im Chor.
Tante Kassandra runzelte die Stirn. »Riecht er so schlecht?«
Alle drei nickten zugleich.
»Der Tee kommt aus Asien, wisst ihr«, erklärte Tante Kassandra. »Er ist etwas ganz Besonderes.«
»Oh ja«, seufzte Kyra. »So wie vorgestern der Haifischflossentee. Und der Tigerkrallentee letzte Woche. Und der …«
»Der Fliegender-Teppich-Tee«, unterbrach sie Nils.
»Genau«, pflichtete Kyra ihm bei. »Tee aus den Fasern eines echten fliegenden Teppichs. Wer weiß, wie viele splitternackte Fakire da schon draufgesessen hatten und –«
»Fakire sitzen auf Nagelbrettern!«, fiel ihre Tante ihr ein wenig erbost ins Wort. »Außerdem hieß der Tee nur so!«
»Schmeckte aber irgendwie nach nacktem Fakir«, sagte Lisa und hob ihre knochigen Schultern.
Tante Kassandra brummte etwas
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