Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch
der in eine der Regalwände eingelassen war. »Wenn sie noch existieren, müssten sie hier irgendwo sein. Hier hat er immer gesessen und die Ergebnisse seiner Forschungen aufgeschrieben.«
Sie zog alle Schubladen auf, vergebens. Schließlich entriegelte sie ein verstecktes Schloss an der Unterseite und öffnete ein Geheimfach unter der Tischplatte.
»Hier sind sie!«, entfuhr es Lisa erfreut. Mit beiden Händen hob sie einen Stapel von fünf oder sechs Schreibkladden hervor. Sie sahen aus wie großformatige Schulhefte, nur viel dicker und in Leder gebunden.
Die anderen traten neben Lisa und sahen zu, wie ihre Freundin die Jahreszahlen auf den Buchdeckeln verglich. Die Schrift war schnörkelig und halb verblasst.
»Das hier muss es sein«, meinte Lisa schließlich. Sie blätterte in einem Band, und Kyra, die über Chris’ Schulter blickte, musste sich eingestehen, dass sie kaum ein Wort lesen konnte. Um so verblüffter war sie, dass Lisa keinerlei Mühe mit der Entzifferung hatte. War auch das eine verborgene Eigenschaft, die von den Siegeln hervorgehoben wurde?
»Hier beginnen die Einträge über Baron Moorstein«, sagte Lisa, nachdem sie einige Zeilen überflogen hatte. Sie blätterte ein wenig und meinte schließlich: »Es sind nur ein paar Seiten, die ihn betreffen. Offenbar hat unser Großvater nicht viel über ihn herausfinden können. Soll ich das alles vorlesen?«
»Kannst du’s nicht überfliegen und uns dann die Kurzfassung erzählen?«, fragte Chris, der angesichts der altmodischen Schrift ähnlich unverständliche Formulierungen befürchtete.
Lisa nickte. Sie schien stolz zu sein, dass nur sie den Text entziffern konnte. Hastig lief sie an den anderen vorbei und ließ sich in einen der Ohrensessel fallen. Das uralte Leder quietschte, als hätte sich eine Mäusefamilie darin eingenistet.
Während Lisa die Seiten studierte, liefen Kyra und die Jungs ungeduldig in der Bibliothek hin und her. Sie wussten nichts mit sich anzufangen. Keiner von ihnen hatte die nötige Ruhe, um die vielen Buchrücken genauer zu betrachten. Sie alle fürchteten jeden Moment einen neuen Angriff des schwarzen Storchs.
»So«, meinte Lisa endlich, »ich hab’s.«
Und dann begann sie zu berichten, was ihr Großvater über Baron Moorstein herausgefunden hatte.
Demnach hatte der Baron im Jahr 1707 den Beschluss gefasst, den Kerkerhof auf einem Hügel südlich von Giebelstein zu errichten. Vier Jahre später, 1711, waren die Bauarbeiten beendet, und der Baron bezog sein neues Zuhause. Fortan hörte man so gut wie nichts mehr von ihm. Die wenigen Bediensteten, die er im Haus beschäftigte, waren verschlossene Menschen, deren ungewöhnlich helle Haut verriet, dass sie das Tageslicht scheuten. Nur wenn sie den Markt von Giebelstein besuchten, um Lebensmittel zu kaufen, sah man sie im Freien. Die Bewohner der kleinen Stadt, die sich auf große Ballgesellschaften und Treibjagden gefreut hatten, wurden enttäuscht: Es kamen kaum Gäste nach Schloss Moorstein, und wenn doch, dann waren es undurchsichtige Gestalten aus Ländern, von denen keiner der Bauern und Händler je gehört hatte.
Die Aufzeichnungen übersprangen mehrere Jahrzehnte, und weitere Einzelheiten datierten erst wieder auf das Jahr 1784. Zu diesem Zeitpunkt musste der Baron bereits einhundertdrei Jahre alt gewesen sein. Unfassbar, zumal die Menschen damals für gewöhnlich weit jünger starben als heutzutage.
In jenem Jahr, so hieß es, habe der Baron seine aufwändigste und machtvollste Beschwörung gewagt – und seine letzte. Lange schon hatte man in Giebelstein gemunkelt, dass der alte Moorstein mit den Mächten des Bösen einen Pakt geschlossen hätte, um sein Leben zu verlängern. Nun aber, in jenem Jahr 1784, ging er endgültig zu weit.
Den Gerüchten zufolge wollte er einen Dämon heraufbeschwören, der in der Hierarchie der Hölle weit über jenen niederen Kreaturen stand, die er bislang herbeizitiert hatte. Um dieses Vorhaben zu vollbringen, musste Moorstein erst eine große Anzahl unbedeutender Höllenwesen in sein Schloss locken, die sodann dem höher gestellten Dämon geopfert werden sollten. Ohne diese Opfergabe würde die Kreatur nicht erscheinen, geschweige denn dem Baron die Gunst der Unsterblichkeit gewähren, nach der es ihn so sehr verlangte.
Angeblich gelang es Moorstein tatsächlich, die niederen Dämonen mit dem Versprechen einer teuflischen Ballnacht zu täuschen und sie allesamt zu opfern. Anschließend zog er sich in seine Räume in den
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