Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
den Büchern sehen«, sagte Chris.
Nils starrte ihn fassungslos an. »Selbstmord wegen ein paar alter Schinken? Wir wissen ja nicht mal, ob irgendwas drinsteht, das uns gegen diesen Mistkerl hilft.«
Kyra drehte sich zu ihm um. »Chris hat Recht. Alles, was wir sonst tun können, ist, vor ihm davonzulaufen. Und am Ende werden ihn die Siegel immer wieder zu uns führen. Wir haben –«
»Keine Wahl, ich weiß«, unterbrach Nils sie. »Dein Lieblingssatz.«
Kyra seufzte und wandte sich zur Tür. »Ihr wartet alle hier. Ich schaue nach den Büchern.«
»Ich komme mit«, sagte Chris.
Kyra schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Ich weiß, wo ich die richtigen Bände finde. Dafür brauche ich nun wirklich kein Kindermädchen.«
Chris wirkte ein wenig beleidigt, gab aber nach. »Wie du meinst.«
Wortlos tauchte Kyra in die Dunkelheit der Küche.
Es war zu finster, um zu erkennen, wo der Mann im Mond seine Spuren hinterlassen hatte. Kyra lief zielstrebig zu einer Schublade, in der ihre Tante eine Taschenlampe aufbewahrte, damit sie und Kyra auch im Dunkeln auf dem unbeleuchteten Hof Kaminholz holen konnten.
Kyra ließ das Licht aufflammen – und wünschte noch im gleichen Moment, sie hätte es nicht getan.
Die Decke der Küche war mit Dornenranken eingesponnen, die sich entlang der beiden Türen bis hinab zum Boden erstreckten. Obwohl von ihnen keine direkte Gefahr ausging – die Zweige bewegten sich nicht und schienen ohne Leben zu sein –, war der Anblick beinahe zu viel für Kyra. Angst legte sich auf ihre Brust wie ein Zentnergewicht.
Egal – sie musste weiter!
Es kostete sie einige Überwindung, durch die Küchentür hinaus in den Flur zu treten. Sie fand den Lichtschalter und drückte darauf. Die Strahler an der Decke warfen grellen Schein in alle Winkel des Flurs und des Treppenhauses.
Auch hier zogen sich vereinzelte Dornenranken über Wände und Decke, aber es war nicht so schlimm wie in der Küche. Vielleicht hatte der Mann im Mond sich hier nicht so lange aufgehalten.
Kyra atmete tief durch, dann hastete sie, ohne nachzudenken, die Treppe hinauf, hoch in den ersten Stock, in Tante Kassandras Bücherzimmer.
Der Raum machte seinem Namen alle Ehre. Vom Boden bis zur Decke wuchsen eng bestückte Bücherregale empor. Auch auf dem Teppich türmten sich hohe Stapel von Bänden allen Alters, vom zerfledderten Taschenbuch bis zum uralten Folianten. Die meisten Bücher beschäftigten sich mit Esoterik, Okkultismus und der Zubereitung exotischer Teesorten. Auf der Innenseite der Tür hing ein vergilbtes Woodstock-Plakat. Über dem durchgesessenen Lesesessel baumelte ein Fächer von der Decke, der mit Hilfe einer Schnur bedient werden konnte – er hatte die Form eines überdimensionalen Hanfblattes.
Dornenzweige waren nirgends zu sehen, sie endeten unten auf der Treppe. Der Mann im Mond musste sich zurückgezogen haben, als er bemerkt hatte, dass sich niemand im Haus aufhielt. Kyra schauderte bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn ihre Tante heute nicht mit Ruth ins Theater gefahren wäre.
Zielstrebig trat sie an das Regal, in dem Kassandra ihre Bücher über Aberglauben und Naturreligionen aufbewahrte. Wenn überhaupt, würde Kyra nur hier fündig werden.
Vergeblich suchte sie nach einem Band, der sich schon im Titel auf den Mond bezog, bis sie dann wahllos ein Buch in englischer Sprache hervorzog. Curious Myths of the Middle Ages, stand als Titel darauf – Sonderbare Mythen des Mittelalters. Der Name des Autors war S. Baring-Gould, was nicht einmal Aufschluss darüber gab, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Der Band stammte aus dem Jahr 1867, und entsprechend zerlesen und brüchig waren seine Seiten.
Sie hatte Glück: Eine der Legenden, die das Buch behandelte, war die vom Mann im Mond.
Kyra schob sich das Buch unter den Arm, suchte noch eine Weile weiter, fand aber nichts Erfolg Versprechendes. Chris würde sich den Band vornehmen müssen. Sein Vater war Diplomat gewesen, ehe er sich in Giebelstein zur Ruhe gesetzt hatte, und Chris hatte seine Kindheit in einem halben Dutzend verschiedener Länder verbracht. Er beherrschte sechs Sprachen, vier davon fließend. Das Buch würde ihm keine Probleme bereiten.
Sie verließ das Bücherzimmer und trat ins Treppenhaus, als ihr von unten schon die anderen entgegenkamen. Polternd stürmten sie die Stufen herauf, atemlos, blanke Panik in den Augen.
»Er … kommt!«, keuchte Chris, der vorneweg lief.
Kyras Magen krampfte sich
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