Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Belohnung den Rasen gleich noch mal mähen.«
Der Rasen des Parks hinter dem Erkerhof war wirklich verflucht groß.
Kyra machte sich auf den Weg nach unten.
»Auf alle Fälle ist es das einzig Vernünftige, was wir im Moment tun können.«
Die anderen schlossen sich ihr an. Erneut ging es durch die Schießscharte aufs Dach und von dort aus in Kyras Speicherzimmer.
Wenig später schoben Kyra und die anderen ihre Fahrräder auf den Hinterhof, dann bogen sie in die Hauptstraße ein. Chris saß auf Nils’ Gepäckträger. Vor dem Haus der Guldenmunds hielten sie kurz an und warteten, bis Chris sein eigenes Rad aus dem Keller geholt hatte. So schnell sie konnten, rasten sie dann durch das südliche Stadttor hinaus auf die Landstraße. Nach einigen hundert Metern zweigte rechts eine lange Pappelallee ab, die zum Hotel Erkerhof führte.
Das Gemäuer lag ein wenig außerhalb der Stadt, auf einer sanften Erhebung am Waldrand. Es war gebaut wie ein Hufeisen, dessen offene Seite nach Osten wies, mit Blick auf die Hügel. Der größte Teil des Parks befand sich im Norden der Hotelanlage, ein schmaler Streifen erstreckte sich aber auch entlang seiner Rückseite im Westen.
Genau dort hatten Lisa und Nils die Scheuche beobachtet. Sie hatte gleich am Waldrand gestanden, im düsteren Halbschatten der vorderen Bäume.
Nun aber war sie fort.
»Sie war da, wirklich!«, stammelte Lisa, die sogleich einen prüfenden Blick hinüber zu Chris warf. Glaubte er, sie hätte sich die Scheuche nur eingebildet?
Aber nein, natürlich wusste er, dass sie keine hysterische Zicke war, die sich wichtig machen wollte. Ihr absolutes Vertrauen zueinander war eine der wichtigsten Waffen in ihrem Kampf gegen die Mächte der Finsternis.
»Wohin kann sie verschwunden sein?«, fragte Chris und schaute sich suchend im Park um. Er und die anderen stiegen von ihren Rädern ab und lehnten sie an die Rückwand des Hotels, unweit einer schmalen Hintertür. In früheren Jahrhunderten, als dies noch das Schloss des verruchten Barons Moorstein gewesen war, waren durch diesen Eingang die Dienstboten ein und aus gegangen.
Der Park war verwildert und unübersichtlich. Die Eltern von Nils und Lisa hatten genug damit zu tun, das riesige Hotel instand zu halten. Für den Park war kein Geld übrig. Nur Nils rückte der wuchernden Wildnis ab und an notgedrungen mit dem Rasenmäher zu Leibe. Die Sträucher und uralten Bäume wuchsen so, wie es ihnen gefiel. Stämme und Äste waren mit einem Netz aus Kletterpflanzen überzogen. Brennnesseln quollen in dichten Büscheln zwischen knorrigem Wurzelwerk empor. Hinter einer mächtigen Buche befand sich seit Monaten ein großer Ameisenhaufen, von dem man sich besser fern hielt.
»Da drüben ist sie!«, rief mit einem Mal Lisa. Sie hatte die Vogelscheuche hinter einem finsteren Ginsterdickicht entdeckt. Nur der Leinenkopf und die ausgestreckten Arme waren zu sehen. Das flache, ausdruckslose Gesicht der Scheuche war den Freunden zugewandt, so, als hätte sie die vier schon die ganze Zeit über stumm beobachtet.
»Wartet«, sagte Nils. Er verschwand durch den Hintereingang und kehrte bald darauf mit einer langen Harke aus dem Werkzeugkeller des Kerkerhofs zurück.
»Hat sie sich bewegt?«, fragte er.
»Keinen Zentimeter«, gab Chris zurück.
Nils ging voran, die Harke weit vor sich gestreckt. Die anderen folgten ihm. Sie machten einen Bogen um die Ginsterbüsche und warteten gespannt darauf, dass sich die Scheuche zu ihnen umwandte. Doch die unheimliche Gestalt regte sich nicht.
»Vielleicht will sie, dass wir uns sicher fühlen«, flüsterte Kyra.
»Klar«, sagte Nils. »Und gleich wird sie ›Buuh‹ rufen, und wir werden vor Schreck alle tot umfallen.« Er streckte die Harke so weit aus, dass die Stahlzinken die schmutzigen Lumpen der Scheuche berührten.
»Pass ja auf!«, riet Kyra ihm, ohne selbst recht zu wissen, worauf er eigentlich Acht geben sollte. So wie die Scheuche dastand, war sie nur ein toter Gegenstand, der eher beunruhigend als tatsächlich bedrohlich wirkte. Und doch – sie durften nicht vergessen, was mit dem armen Schaf geschehen war.
Es gelang Nils, mit der Harke den Stoff vom Gesicht der Scheuche zu ziehen. Niemand war überrascht, als darunter ein weiterer Totenschädel zum Vorschein kam. Er war nicht ganz so gut erhalten wie der erste, sein Mund war fast zahnlos. Ein leeres Schneckenhaus klebte in der linken Augenhöhle.
»Im Keller hab ich Brennspiritus gesehen«, sagte Nils. »Wir könnten
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