Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
versuchen, das Ding in Brand zu stecken.«
Wie als Antwort auf seine Worte drang ein lang gezogenes Knirschen zwischen den Lumpen der Vogelscheuche hervor. Ein besonders heftiger Windstoß wirbelte den Stoff auf, bis seine Enden wie lange Finger nach Nils tasteten. Erschrocken machte er einen Satz nach hinten.
»Ich hol den Spiritus«, rief er hastig, bevor einer der anderen reagieren konnte.
Wenig später tauchte er mit einem rostigen Blechkanister wieder auf.
»Hat sie sich bewegt?«, fragte er.
Kyra schüttelte den Kopf. Sie deutete auf den Kanister. »Glaubst du wirklich, dass das ’ne gute Idee ist?«
»Hast du ’ne bessere?«
Chris packte die Harke, die Nils beiseite gelegt hatte. Er versuchte, damit die Scheuche umzustoßen. Vergeblich.
»Die steckt im Boden wie einbetoniert«, murmelte er missmutig.
Lisa meldete sich zu Wort. »Glaubt ihr, es hat überhaupt Sinn, nur eine einzige von denen abzufackeln? Ich meine, da draußen sind noch dreißig oder vierzig andere. Bevor wir sie auch nur zur Hälfte verbrannt haben, sind die Ersten doch schon längst in der Stadt.«
»Wir sollten wenigstens mal ausprobieren, wie das Ding auf Feuer reagiert.« Mit diesen Worten schraubte Nils den Verschluss des Kanisters auf. Die drei anderen traten eilig einige Schritte zurück.
Nils holte aus und wollte gerade Spiritus auf die Scheuche spritzen, als Kyra plötzlich rief:
»Mist, guckt mal da drüben!«
Alle wirbelten herum.
Hinter ihnen waren zwei weitere Scheuchen aufgetaucht. Die eine war bereits bis auf drei Meter an sie herangekommen.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, keuchte Chris.
Noch immer wusste keiner, was tatsächlich passieren würde, wenn einer von ihnen zu nah an eine Scheuche geriet. Aber allein die Vorstellung, dass sie, ohne es zu bemerken, von den geisterhaften Wesen eingekreist werden könnten, machte ihnen Angst. Das Bild des toten Schafs war in ihren Gedanken allgegenwärtig.
»Ich glaube, du solltest das nicht tun«, sagte Lisa und zeigte auf den Kanister in Nils’ Hand.
Ihr Bruder schaute erst zu ihr, dann auf die Scheuchen, die im Hintergrund herangekommen waren. Seine Entschlossenheit schwand dahin.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte er leise.
»Schraub den Kanister zu, und stell ihn auf den Boden«, empfahl ihm Kyra. »Wir sollten sie nicht auch noch wütend machen.«
»Vogelscheuchen – wütend?« Chris schüttelte den Kopf. Aber er wusste genauso gut wie die anderen, dass nichts mehr unmöglich war, seit sie zu Siegelträgern geworden waren.
»Da – die eine ist näher gekommen!«, entfuhr es Lisa. »Hat einer von euch hingesehen?«
Alle schüttelten die Köpfe. Wieder waren sie abgelenkt gewesen. Sie würden sich angewöhnen müssen, die Scheuchen im Auge zu behalten, wenn sie keine bösen Überraschungen erleben wollten.
»Hauen wir ab!«, entschied Kyra.
»Ja«, gab Chris ihr Recht, »ich glaub, das ist das Beste.«
Sie zogen sich durch die Hintertür ins Innere des Kerkerhofs zurück. Mithilfe eines schweren Stahlriegels verschlossen sie die Tür. Zur Sicherheit schoben die beiden Jungs noch eine Kiste mit Gartengeräten dagegen.
Anschließend machten sie sich auf die Suche nach Lisas und Nils’ Eltern. Sie liefen durchs ganze Hotel, bis sie entdeckten, dass der Kleintransporter, mit dem Lebensmittel und andere Utensilien herangeschafft wurden, nicht im Hof stand. Offenbar waren die beiden in die Stadt gefahren.
»Gäste habt ihr im Moment keine, oder?«, fragte Kyra.
»Nö«, erwiderte Nils, »nicht einen einzigen. Erst für nächsten Montag haben sich ein paar angekündigt.«
Kyra nickte erleichtert. »Okay, fahren wir zurück nach Giebelstein.«
»Vielleicht solltest du deiner Tante erzählen, was passiert ist«, schlug Lisa vor. Leiser fügte sie hinzu: »Oder noch passieren wird. «
Kyra schüttelte den Kopf. »Sie würde sich doch nur Sorgen machen.«
Aber Lisa blieb beharrlich. »Vielleicht hat sie ’ne Idee, was wir tun können, um die Scheuchen aufzuhalten.«
»Fahren wir doch erst mal hin«, mischte sich Chris ein. »Dann können wir uns immer noch überlegen, was wir machen.«
Sie eilten hinaus auf den Hof, schwangen sich auf die Räder und rasten die Pappelallee hinunter.
Im Vorbeifahren bemerkten sie zwischen den Bäumen dürre Gestalten.
Reglos, stumm.
Mit wehenden Lumpenhemden, zerfransten Hüten und weit ausgebreiteten Armen.
Horror!
»Der alte Kropf ist verschwunden«, sagte Tante Kassandra und stellte eine Teekanne auf die
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