Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Ohren offen.«
Chris sah Kyra von der Seite an. »Meinst du, wir sollten versuchen, Kropf zu finden?«
Kyra nickte. »Ist doch das Sinnvollste, oder?«
Lisa pflichtete ihr bei. »Vielleicht können wir ihm irgendwie helfen.«
»Vorausgesetzt«, sagte Nils, »es ist ihm nicht genauso ergangen wie seinem Schaf.«
Tante Kassandra goss sich auf den Schreck eine große Tasse Tee ein. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, flüsterte sie, trank einen Schluck und verbrannte sich die Zunge.
Chris grinste und deutete auf die Tasse. »Was ist das?«
»Brotkrumentee.«
Die Freunde machten lange Gesichter, dann wandten sie sich zur Tür. Nichts, was sie dort draußen erwartete, konnte schlimmer sein als dieser Tee.
»Passt auf euch auf, ja?«, rief Tante Kassandra hinter ihnen her, als sie hinaus auf die Straße gingen. »Habt ihr gehört?«
»Klar«, erwiderte Kyra über die Schulter, dann fiel die Ladentür mit einem Klimpern der Türglocke ins Schloss.
Sie ließen die Räder stehen, weil sie auf den Wiesen nur hinderlich sein würden. Stattdessen rannten sie zu Fuß durchs Stadttor, ein Stück an der Landstraße entlang Richtung Norden und dann, durch ein Schlupfloch in den Hecken, hinaus auf die Weiden.
Jeder hatte eine Hand voll Müsliriegel aus Tante Kassandras Küche stibitzt. Darauf kauten sie, während sie durch das hohe Gras stapften. Es war bereits Nachmittag, und sie hatten kein Mittagessen gehabt. Die Riegel machten immerhin satt, und eigentlich schmeckten sie sogar ganz gut – auch wenn irgendwelches Zeug über Vitamine, Nähr- und Ballaststoffe auf der Verpackung stand.
Von dem Trupp, der aufgebrochen war, um Kropf zu finden, entdeckten sie keine Spur. Vermutlich suchten die Männer auf der anderen Seite der Stadt, oder aber sie hatten aufgegeben. Wahrscheinlich glaubten alle, dass der alte Schäfer ihnen ohnehin früher oder später wieder mit seinem Gefasel auf die Nerven gehen würde, ihm würde schon nichts passiert sein.
Im Norden erhob sich der ummauerte Hügel, auf dem die Kirche Sankt Abakus inmitten eines verwitterten Friedhofs stand. Dort oben hatten einst drei Hexen des Arkanums versucht, den Hexenmeister Abakus wieder zu erwecken, dessen Sarkophag seit Jahrhunderten in der Krypta der Kirche lagerte. Kyra und die anderen hatten seine Auferstehung vereitelt. Dabei waren sie auf das Geheimnis der Sieben Siegel gestoßen; damals hatten sich die Male unauslöschlich in ihre Unterarme gebrannt.
Heute aber ließ nichts darauf schließen, was in den uralten Mauern der Kirche vorgefallen war. Die Sonne beschien den hohen Glockenturm und hob ihn leuchtend von den dunklen Wolken ab, die sich über den Wäldern im Norden zusammenballten. Eine Hand voll Krähen kreiste kreischend um die Mauern.
Die Freunde wussten nicht, wo sie nach dem Schäfer suchen sollten. Daher war die Kirche als Ausgangspunkt so gut wie jeder andere.
Eilig passierten sie das Pfarrhaus am Fuß des Hügels. Hinter einer Scheibe sah Kyra das bleiche Gesicht des Pfarrers Berg, der ihnen argwöhnisch hinterherblickte. Keiner der vier ging regelmäßig zur Messe; ihr plötzliches Auftauchen weckte das Misstrauen des Geistlichen. Trotzdem kam er nicht aus dem Haus. Er beobachtete sie lieber vom Fenster aus. Wahrscheinlich nahm er an, die Freunde hätten ihn nicht bemerkt.
Sie liefen den geschlängelten Weg hinauf und erreichten den steinernen Torbogen am Eingang des Friedhofs. Dort drehte Kyra sich noch einmal um und schaute über die umliegenden Hügel. In einem Umkreis von einigen hundert Metern zählte sie vier Vogelscheuchen. Die beiden, die den Freunden am nächsten standen, hatten sich ihnen zugewandt; die anderen blickten Richtung Giebelstein.
»Kommt, schauen wir uns den Friedhof an«, schlug Nils vor.
Sie wussten, dass der alte Kropf sich in der Vergangenheit manches Mal hierher zurückgezogen hatte, um in Ruhe eine Flasche billigen Fusel zu leeren. Meist saß er dann im Gras, lehnte mit dem Rücken an einem Grabstein und lallte unverständlich vor sich hin. Früher war das ein trauriger, ein erschreckender Anblick gewesen, aber heute hätten sie einiges dafür gegeben, den Schäfer so vorzufinden. Immerhin hätte das bedeutet, dass ihm nichts Schlimmeres zugestoßen war.
Der Gottesacker machte einen friedlichen Eindruck. Das Moos auf den Grabsteinen hatte das Tauwasser der Nacht aufgesogen und glitzerte silbrig. Einige Gräber waren von hohem Unkraut überwuchert. Ein paar Hummeln summten um gelbe Wildblumen.
Die vier
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