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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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streiften zwischen den Grabmälern und Gedenktafeln umher, schreckten Feldmäuse und Krähen auf und umrundeten die Kirche. Kropf war nirgends zu entdecken.
    Chris kletterte auf die Friedhofsmauer und schaute sich um.
    Derweil hockte sich Kyra ins Gras und seufzte tief. »So hilflos hab ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.«
    Lisa legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ach, komm … Es hat schon schlimmer um uns gestanden. Wenigstens müssen wir nicht ständig um unser Leben rennen.«
    »Und Giebelstein?«, fragte Kyra vorwurfsvoll. »Was, wenn die Scheuchen die Stadt erreichen?«
    »Wir wissen ja nicht mal, was dann passiert«, sagte Lisa.
    »Ich will’s lieber nicht drauf ankommen lassen.«
    Chris streckte plötzlich einen Arm aus und wies nach Osten. »He, ist er das nicht?«
    Sofort waren die drei anderen neben ihm.
    Etwa hundert Meter entfernt, hinter der Kuppe des nächsten Hügels, stand eine Gestalt und wandte ihnen den Rücken zu. Sie trug dieselbe Kleidung, die Kropf in der Nacht zuvor angehabt hatte, als sie ihn in der Ferne über die Weiden hatten laufen sehen.
    Und doch war es nicht Kropf, der da stand.
    Die Gestalt hatte beide Arme ausgestreckt. Wie eine Vogelscheuche.
    »Warum hat eine Vogelscheuche Kropfs Klamotten an?«, sprach Nils den Gedanken aller laut aus.
    Lisa schluckte. »Oh Mann!«
    Sie verließen den Friedhof, so schnell sie konnten, und rannten den benachbarten Hügel hinauf. Von unten aus konnten sie die Scheuche nicht mehr sehen. Erst als sie sich der Kuppe näherten, tauchte die gespenstische Gestalt wieder hinter dem Hügel auf. Sie hatte sich jetzt umgedreht. Ihr Gesicht war unter dem Rand des tief herabgezogenen Hutes nicht zu sehen.
    Es war Kropfs Kleidung, daran bestand kein Zweifel. Sein langer Schäfermantel wehte im Wind. Darunter war sein verblichenes Arbeitshemd zu erkennen.
    Vier Meter vor der Scheuche blieben die Freunde wie angewurzelt stehen.
    »Ach du heilige Scheiße!«, fluchte Nils. Er war der Einzige, der überhaupt einen Ton herausbekam. Alle anderen waren starr vor Schreck.
    Von hier aus konnten sie unter die breite Hutkrempe der Scheuche blicken. In ihrem Schatten erkannten sie jetzt deutlich, was sie aus leeren Augenhöhlen anblickte.
    Diesmal war der Totenschädel nicht von einem alten Leinensack bedeckt. Blank und weiß leuchtete er den vieren entgegen. Auch war er keineswegs vergilbt und halb zerfallen wie die Köpfe der anderen Scheuchen.
    Dieser Schädel hatte nicht seit hunderten von Jahren im Boden gelegen.
    Auch ein Nagel war nirgends zu sehen. Nur das leichenhafte Grinsen war das gleiche wie bei den anderen.
    »Ist das –« Weiter kam Lisa nicht. Sie musste den Namen nicht aussprechen. Alle wussten auch so, dass sie es diesmal nicht mit einem uralten Pesttoten zu tun hatten.
    Chris murmelte unverständlich vor sich hin. Nils kratzte sich nervös am Kopf, während Lisas Beine zitterten wie Gummibänder. Nur Kyra blieb nach außen hin gelassen; das Erbe ihrer Mutter war stärker als ihr Entsetzen.
    Kropfs Kleidung. Kropfs Totenschädel.
    Die Scheuchen hatten den Schäfer zu einem der ihren gemacht.
     

Boralus
    »Ich kann nicht glauben, wie viel Glück wir gehabt haben«, stöhnte Chris, als sie den Eingang des Rathauses erreichten. »Wenn wir eine von den Scheuchen angefasst hätten – mit bloßen Händen meine ich –, dann sähen wir jetzt wahrscheinlich genauso aus wie der arme Kropf.«
    »Mit Sicherheit können wir das nicht wissen«, sagte Kyra.
    »Ich jedenfalls kann auf den Beweis verzichten«, bemerkte Nils trocken.
    Die Frau hinter dem Informationsschalter am Eingang war mit anderen Besuchern beschäftigt, deshalb bemerkte sie nicht, wie die vier Freunde blitzschnell an ihr vorüberschlichen. Auf der Treppe, die hinab in die Gewölbe führte, begegnete ihnen niemand – nur selten verirrte sich überhaupt ein Mensch hier hinunter. Was interessierte die Rathausbeamten die Vergangenheit der Stadt, wenn sie genug mit der Gegenwart zu tun hatten?
    Kyra klopfte an die Tür des Archivs. Nur Augenblicke später bat Herr Fleck sie herein.
    »Ihr seid früh«, sagte er.
    Die vier versammelten sich in einem Halbkreis um den Schreibtisch des Archivars. Kyra und Chris fiel auf, dass dort weitere Türme aus alten Büchern entstanden waren, manche zehn, fünfzehn Bände hoch. Als Herr Fleck die Tür schloss, wippten die Büchersäulen vor und zurück wie geheimnisvolle Meerespflanzen in einer sanften Strömung.
    »Ich habe ein paar Dinge für euch

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