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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Augenblick nichts, zu spekulieren, warum die Gebeine der Toten eine so lange Zeit überstanden hatten. Kyra interessierte vielmehr, wer die Schädel aus der Erde geholt hatte – und auf welche Weise er sie zu lebenden Vogelscheuchen umfunktioniert hatte. Zu mordenden Vogelscheuchen.
    »Wer war damals dafür verantwortlich, die Leichen zu beseitigen?«, erkundigte sie sich.
    Herr Fleck grinste. Seine Zähne waren noch gelber als seine Haut. »Ich hab gewusst, dass du das fragen würdest.« Er bückte sich und zog ein schweres altes Buch unter dem Schreibtisch hervor. Es war größer als die Atlanten, die sie in der Schule benutzten, und mindestens fünfmal so dick.
    Der Archivar hatte eine Stelle in dem Buch mit einem Stück Papier gekennzeichnet. Dort schlug er den Band jetzt auf und legte ihn auf einige andere Bücher.
    »Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich die entsprechende Passage gefunden habe«, sagte er. »Hier ist sie.«
    Nils warf einen Blick auf den Text. »Ist das Latein?«
    »In der Tat.«
    »Können Sie das lesen?«
    »Natürlich.« Herr Fleck lächelte nachsichtig. »Sonst wären für mich gut zwei Drittel aller Bücher in diesem Archiv wertlos. Damals, als noch gelehrte Mönche Buch führten über das, was sich in der Welt tat, war Latein die wichtigste Schriftsprache.«
    Nils nickte beklommen. Das imponierte ihm gewaltig. Der einzige lateinische Satz, den er beherrschte, war gleichzeitig der erste Satz seines Schulbuchs: Publius rusticus est – Publius ist ein Bauer. Das war alles, was ihm zum Thema Latein einfiel. Nicht gerade weltbewegend.
    »In dieser Chronik ist genau verzeichnet, was damals passiert ist«, erklärte Herr Fleck und musterte die vier Freunde der Reihe nach. »Das meiste sind detaillierte Aufzeichnungen über den Ausbruch der Krankheit, über ihre Symptome und ihre Auswirkungen auf das Leben in dieser Gegend. Aber hier ist auch die Rede von einem Medicus, einem Heiler, der sich der Kranken annahm. Sein Name war Boralus.«
    »Boralus«, wiederholte Kyra gedankenverloren. Hatte sie diesen Namen schon einmal irgendwo gehört? Sie konnte sich nicht erinnern. Dennoch brachte er irgendetwas in ihr zum Klingen. War es wieder das Erbe ihrer Mutter, das sich bemerkbar machte?
    Der Archivar beobachtete sie neugierig. Ihr Interesse an diesem Namen überraschte ihn.
    »Boralus war ein angesehener und geachteter Mann. Er tauchte etwa zur gleichen Zeit hier in der Gegend auf, als auch die Pest Einzug in Giebelstein hielt. Es heißt, er habe zahlreiche Menschen geheilt. Jene aber, die er nicht retten konnte, ließ er im Wald begraben.«
    »Und die Nägel?«, fragte Lisa.
    »Wurden in Boralus’ Auftrag geschmiedet. Vom damaligen Dorfschmied, nehme ich an. Boralus selbst schlug sie den Toten in die Schädel. Er war wohl davon überzeugt, dass damit die Krankheit in den Toten festgehalten würde und sich nicht mehr auf andere übertragen könnte. Die Umstände gaben ihm Recht, zumindest in den Augen der abergläubischen Menschen von damals. Schon bald, nachdem das Grab im Wald gefüllt war, verschwand die Pest aus Giebelstein.«
    Chris grübelte. »Das klingt ja fast so, als hätte dieser Boralus die Pest erst hierher gebracht, oder? Und dann, als er hatte, was er wollte – nämlich eine bestimmte Anzahl von Leichen, zu welchem Zweck auch immer –, ließ er die Krankheit wieder verschwinden.«
    Chris’ Theorie war für seine drei Freunde bestimmt, aber natürlich hatte auch der Archivar zugehört. Für Kyra und die anderen waren solche Gedanken nicht allzu weit hergeholt; sie hatten schon wunderlichere und erschreckendere Dinge erlebt. Auf einen normalen Erwachsenen aber mussten Chris’ Ideen höchst befremdlich wirken.
    Daher erstaunte es alle, dass Herr Fleck keineswegs überrascht zu sein schien. Er wirkte nicht einmal verwundert.
    Stattdessen nickte er langsam. »So könnte es gewesen sein, allerdings.«
    Lisa sah den Archivar mit großen Augen an.
    »Sie glauben an so was?«
    »Warum nicht?«, erwiderte er lachend. »Wenn man all die Bücher gelesen hat, die ich gelesen habe, muss man die Existenz des Übernatürlichen wohl oder übel akzeptieren – ebenso wie die Existenz von Wesen, die das Gute und das Böse verkörpern. Boralus könnte beides sein, eine weise Lichtgestalt, wie die Chronik es uns glauben machen will, oder aber auch ein finsterer Schurke. Das entspräche dann deiner Theorie, Chris, nicht wahr?«
    Chris nickte heftig.
    Kyra musterte den alten Archivar eindringlich.

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