Sieben Stunden im April
habe, eigenverantwortlich 135 PS plus Turbolader durch die südöstliche Heide steuert. Verkehrte Welt. Ich merke, etwas stimmt nicht. Ich merke aber auch, es hat nichts mit dieser Form der verkehrten Welt zu tun.
Ich muss mal. David hält an einem Feldweg. Ich steige aus, gehe in die Büsche.
Das Grün verwirrt mich. Es ist so viel. Die Straße, der Verkehr. U nd noch hundert Kilometer vor uns. Ich bin verwirrt. Durcheinander. Ich überblicke das alles nicht mehr. Ruhig. Bleib ruhig. Es ist doch alles in Ordnung. Du hast zu viel Kaffee getrunken. Dein Kreislauf spielt verrückt. Trink gleich im Auto einen Schluck Wasser. Dann wird es wieder gehen. Ja. Wasser. Wasser ist gut. Warum fühlt sich alles so eigenartig taub an?
Ich trinke Wasser, wir fahren weiter.
Vielleicht sollte ich besser fahren. Nein, das solltest du nicht. Du kannst so nicht fahren. Ich kann immer fahren. Ich müsste auch fahren, wenn ich alleine wäre. Ja. Aber du bist nicht alleine. David fährt gut. Lehn dich zurück. Genieß den Ausblick. Bald ist Herbst. Bald sind die Blätter gelb und dann nicht mehr da. Lehn dich zurück. Versuch dich zu entspannen. Atme. Vergiss das Atmen nicht. Ja, ich atme. Trotzdem habe ich keinen Überblick mehr über das, was passiert. Ich blicke nicht mehr durch. Was ist nur los mit mir? Ich will nicht, dass David auf die Autobahn fährt. Das halte ich nicht aus. Das ist mir alles zu viel. Atme. Es gibt keine Alternative zur Autobahn und das weißt du. Atme. Und trink noch einen Schluck Wasser. Vergiss nicht, zu atmen.
Wir versuchen eine Unterhaltung. Meine Antworten: einsilbig. Meine Gedanken: wirr. Ich kenne diesen Zustand. Ich verliere mal wieder den Überblick und ich hasse mich dafür. Es gibt doch keinen Grund. Und ich fühle mich unfähig, das, was in mir passiert und was ich nicht verstehe, meinem siebzehnjährigen Sohn zu erklären.
Mein Baby. Fast zwei Meter groß, aber auch dafür viel zu schwer. Mein Baby mit himmelblauen Baby-Augen und einem runden Baby-Gesicht. Mein Baby mit einem hinreißenden Humor und einer überzeugenden Schlagfertigkeit. Mein Baby mit den schlechten Noten und hochgesteckten Zielen. Mein Baby, das so musikalisch ist, aber zu faul zum Klavierüben. Mein Baby, das supergut zeichnen kann, aber Sozialarbeit studierenwill. Mein Baby, das beim Football Gegner umhaut, aber Tiere so zärtlich in seinen Pranken halten kann. Mein Baby. Schuhgröße 49, zerrissene Jeans und ein unerschöpfliches Repertoire an unwiderlegbaren Sätzen: Da kann ich nichts für. Das kann ich mir gar nicht erklären. Das habe ich doch nicht mit Absicht gemacht. Das haben uns die Lehrer aber vorher nicht gesagt. Das wusste ich nicht. Das habe ich vergessen. Keine Ahnung.
Wenn ich für jedes »Keine Ahnung« der letzten fünf Jahre einen Euro bekommen hätte, wäre ich reich. Mein geliebtes, mein einziges Baby. Mein Sohn, mit dem ich heftig streiten und noch heftiger lachen und toben und angeben kann.
Mutter und Sohn. Vor einigen Wochen, ich war noch ganz frisch in meinem neuen Leben und David dachte, ich sei noch im alten, waren wir alleine. Wir schauten fern. Und da kam er, dieser Gedanke, für den ich mich heute noch schäme, obwohl es nichts zu schämen gibt: Was ist, wenn er dich angreift? Chancenlos. Ich schäme mich dafür, so wie ich mich dafür schäme, meinen Mann in unserer Küche angeschrien zu haben: Leg das Messer weg. Leg sofort das Messer weg. So wie ich mich dafür schäme, meinen Mann nachts geweckt zu haben: Sag, dass du mir nichts tun wirst. Sag, dass du mich nie fesseln wirst. Sag es. Sofort. Er hat es gesagt. Ich bin doch nicht er. Du darfst uns doch nicht miteinander verwechseln. Auch das hat er gesagt in dieser Nacht.
David, Wolfram – Ihr sollt wissen, dass ich mich dafür schäme. Ihr müsst wissen, dass ich es nicht ändern konnte. Damals. David, deine Worte wären in diesem Fall: Das kann ich mir gar nicht erklären. Das habe ich doch nicht mit Absicht gemacht. Ich weiß – das ist nicht komisch. Soll es auch nicht sein.
Mann und Frau. Vor einigen Tagen. Er sagt, ich brauche mal deine Meinung als Psychologin. Ich sage sie ihm, die Meinung. Ihm gefällt nicht, was er hört: Na ja, mit deiner psychologischenMeinung hast du ja auch schon mächtig danebengelegen, stimmt’s? Das war auch nicht komisch. Sollte es aber wohl sein. Hoffe ich.
Wir fahren weiter. Wir fahren auf die Autobahn. David fährt zügig, aber nicht zu schnell. Ich atme durch.
Gut. Gut. Alles gut. Noch achtzig
Weitere Kostenlose Bücher