Sieben Stunden im April
klug. Und dann denke ich wieder, dass ich doch so viel Glück gehabt habe. Er hätte mich auch umbringen oder noch schlimmer verletzen können. Mir richtig wehtun können. Und da waren ja auch noch ganz andere Typen. Wenn die michin die Finger bekommen hätten – nicht auszudenken. Und mich nervt total, wenn ich den Eindruck habe, andere Leute fassen mich mit Samthandschuhen an. So ganz opfermäßig. Ich will normal behandelt werden und dann auch wieder nicht. Alles ganz schön kompliziert.
Ich rede und rede und rede. Ich rede die Dämonen weg. Ich rede alles weg – die Folie, die Watte, die Angst. Und die Wut. Die Wut einer Mutter, die den Schutz ihres Kindes braucht, obwohl es doch andersrum sein sollte. Ich kann nicht aufhören zu reden. Was passiert, wenn ich aufhöre?
Schweigen. Ich überhole einen anderen Wagen.
Das Schweigen dauert an.
So kompliziert finde ich das gar nicht. Weißt du was, Mama – sag dir doch einfach, das alles hat Frau Bergmann erlebt. Jetzt bist du Frau Preusker. Und die hat damit eigentlich gar nichts zu tun.
Schweigen. Mein Sohn war noch nie ein Freund großer Worte. Diese waren größer als groß. Ich habe einen phantastischen Sohn. Das habe ich noch oft gedacht. Zum Beispiel circa sechs Monate später. Am anderen Ende der Bundesrepublik. In Konstanz. Am Bodensee.
Ho Narro macht stark
Wenn es etwas gibt, mit dem ich überhaupt nichts anzufangen weiß, ist es Karneval. Vielleicht liegt es an meinen niedersächsischen Wurzeln, vielleicht an meiner spaßbremsenden Persönlichkeit, vielleicht auch daran, dass es nun mal einfach blöd ist, wenn erwachsene Leute sich bekloppte Hüte aufsetzen, bekloppte Lieder singen und wild entschlossen sind, auf Kalendergeheiß Frohsinn zu verbreiten. Nichts für mich. Gleiches gilt im Übrigen in abgeschwächter Form für Volksfeste jeder Art, aber das sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Mein Mann hat Jahre seiner Jugend in Konstanz, einer wunderbaren Stadt, verbracht und sieht die Dinge daher anders. Die alemannische Fasnacht ist seins, seitdem er bei den Frichtle, einem alteingesessenen Fanfarenzug, mitmarschiert ist. Noch anders sieht Arno die Dinge. Arno ist Konstanzer durch und durch, und was die Fasnachtsrituale betrifft – da versteht er keinen Spaß, das wird mit einer Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit abgearbeitet, die jeden Preußen vor Neid ergrünen ließe. Der riesengroße Arno, ein wirklicher Freund, ist mit der quirligen Petra verheiratet, der ich mein sensationelles Himbeer-Sahne-Baiser-Rezept verdanke. Ich habe mich an dem Zeug zwischenzeitlich überfressen. Meine Gäste noch nicht.
Arno, der wirkliche und gute Freund. Arno, der Hausmeister vom Bodensee, mit eigenem Boot und einem Herzen, so groß, dass die ganze Welt und mehr hineinpasst. Natürlich hat Arno auch seine Schattenseiten. Eine ist, dass er nicht einlädt, sondern Marschbefehle hinausposaunt, denen man sich tunlichst nicht widersetzt. Der letzte lautete: Antreten zur Fasnacht.
Ja, aber …
Kein Aber. Die Ablenkung wird euch guttun. Dann und dann seid ihr da.
Wir waren da. Dann und dann.
Fasnacht-Umzug in Konstanz. Bunte Menschen, viel Musik, uralte Masken. Lärm. Gute Stimmung. Schweinekälte. Ho Narro! Immer wieder Ho Narro. Der Konstanzer Fasnachtsgruß. Was das heißt? Na ja – das heißt so viel wie: Ho Narro eben.
Wir stehen als lustiges Grüppchen am Straßenrand. Ein kleiner Clown: Petra. Eine Hexe: ihre Tochter. Hannibal Lecter: mein Mann. Ein cooler Rocker mit zahlreichen Tattoos: mein Sohn.Eine Kuh in der Mitte. Das bin ich. Die Kuh fotografiert. Wir warten auf Arno, der als Riesenclown die Pauke in einem Fanfarenzug schlagen wird. Todernst. Das ist ja schließlich kein Vergnügen hier, das ist Fasnacht.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite kommt ein älteres Paar. Zwei Clowns. Clowns scheinen schwer angesagt in diesem Jahr. Sie drängeln sich zwischen uns hindurch. Die Kuh merkt das nicht, weil sie gerade mit den technischen Tücken einer Canon befasst ist und mit vor Kälte klammen Fingern an den Rädchen dreht. Der Clown schubst sie zur Seite, sagt irgendwas. Die Kuh strauchelt und fällt gegen Hannibal Lecter. Schon vorbei, der Clown und seine Clownsfrau.
Was war das? Hat der dich gerade zur Seite geschubst?
Nein. Ja. Vielleicht. Es ist nichts. Es ist alles in Ordnung.
Der Rocker fragt Hannibal, was ist los.
Da hat gerade einer deine Mutter beiseitegeschubst.
Was?
Hannibal und der Rocker sehen sich an. Es dauert nur
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