Sieben Tage: Thriller (German Edition)
Nails, Al Jarreau, Koos Kombuis, Madonna, Red Hot Chili Peppers, Radiohead. Sechs Klassik-Sammelalben mit Titeln wie Best of der Klassik und Chillen mit Mozart.
Andenken. Alte Programme und Eintrittskarten für Konzerte und Theaterstücke, Postkarten, Glückwunschkarten zum Geburtstag, zum Studienabschluss, zur besseren Stelle. Flugtickets und Broschüren von Reisen nach Europa und Amerika,Modeschmuck, ein klobiges altes Handy, Haarschmuck, zwei zerkratzte Sonnenbrillen, iPod-Kabel, eine Handvoll Gruppenfotos.
Sechs Fotoalben und eine kleinere Schachtel mit Briefen legte Griessel beiseite. Die übrigen Kartons waren mit Kleidern und Schuhen gefüllt. Vielen Schuhen.
Er brachte die Briefe und Fotoalben hinunter ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa und öffnete den Deckel des Briefkartons. Ein Schauder überlief ihn, weil er wusste, dass er nun eine Grenze überschreiten würde. Hanneke Sloet würde zu einem Menschen aus Fleisch und Blut werden, einer lebendigen Frau mit Gefühlen, Kummer und kleinen Geheimnissen. Dadurch würde er seinen Abstand zu ihr verlieren, seine Objektivität, und der Fall würde persönlicher werden. Und genau darin lag das Problem, die Wurzel des Übels. Denn er wusste, was ihm bevorstand. Zwar war dieser Fall anfangs einfacher gewesen. Er war nicht am Tatort gewesen. Er hatte nicht neben der Leiche gestanden und die schreckliche Verletzlichkeit des Frauenkörpers, den Ausdruck des Todes auf ihrem Gesicht gesehen. Er hatte den Geruch von Blut, Parfüm und Verwesung nicht gerochen. Er hatte nicht in Gedanken ihren letzten Augenblick erlebt, ihre Urangst vor der Dunkelheit und dem Tod gespürt oder den lautlosen Schrei gehört, den alle ausstießen, wenn sie für ewig loslassen mussten.
Wieder und wieder hatte ihm Dok Barkhuizen eingeschärft, dass er sich nicht zu sehr in die Mordopfer hineinversetzen durfte. Der Dok wusste, woher seine Alkoholsucht rührte. Vor etwa einem Monat hatte Griessel ihm schließlich gebeichtet, dass er keine Ahnung hatte, wie er sich abschotten und schützen sollte.
»Du musst dich einem Therapeuten anvertrauen, Bennie«, riet der Dok.
Doch das sah er einfach nicht ein. Schließlich kannte er ja den Grund seiner Sucht und konnte sich noch glasklar an das erste Mal erinnern, als er das Grauen nicht mehr verarbeiten konnte, obwohl es schon vierzehn Jahre her war. Er dachte an jenen sonnigen Samstagmorgen zurück, an das fünfjährige Mädchen mitten Park in Rylands, ihre weißen Söckchen und Sandalen, die blauen Schleifen in ihren Flechtzöpfen, dieherzzerreißende Schönheit ihrer feinen Gesichtszüge. Die rotblauen Blutergüsse, die die Vergewaltigung und der Würgegriff hinterlassen hatten, das eingetrocknete Sperma, das zarte Händchen, das ein Karamellbonbonpapierchen wie ein letztes Kleinod umklammerte.
Es war der vierte Mord in jener Woche gewesen, eine furchtbare Zeit. Zu wenige Leute, zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit. Seine Kollegen und er hatten alle unter posttraumatischem Stress gelitten, aber das interessierte damals keinen. Und an jenem Morgen hatte er ihren Gesichtsausdruck im Moment ihres Todes vor Augen gesehen und ihren Urschrei gehört, und da hatte er gewusst, so schrien sie alle, wenn sie starben, alle klammerten sich an das Leben, so fest sie konnten, und wenn jemand ihren Griff löste, dann fielen sie und schrien, aus Angst vor dem Ende.
Natürlich hatte er vorher schon gesoffen, aber so, dass er die Kontrolle darüber hatte, vier, fünf Mal die Woche, nachmittags zusammen mit den Kollegen. Doch danach war die Trinkerei aus dem Ruder gelaufen – der Alkohol war das Einzige gewesen, was die Geräusche und Bilder aus seinem Kopf verbannen konnte, und auch die verzehrende Furcht davor, was seiner Familie, was Anna, Carla und Fritz möglicherweise zustoßen konnte.
Würde er all das einem Seelenklempner erzählen, würde der ihn doch nur mit einer Handvoll Pillen abspeisen, so dass er gleich in die nächste Sucht schlidderte. Oder, schlimmer noch: Er würde ihm womöglich raten, sich einen anderen Job zu suchen. Mit fünfundvierzig? Als Weißer? Bei seinen Unterhaltsverpflichtungen, dem Studiengeld und keinem verdammten Cent auf der hohen Kante?
Warum musste alles so kompliziert sein?
Endlich griff er in die Schachtel.
Systematisch setzte er das Puzzle ihres Lebens zusammen, wobei die Versatzstücke aus den Alben und Briefen zahlreiche Lücken ließen, die er mit Hilfe seiner Phantasie ausfüllen musste. Ihre Geschichte war die
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