Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
Vom Netzwerk:
ersten Mal seit Beginn dieses gottverdammten Falls haben wir eine Chance.« Sie ballte die Fäuste.
    »Eine Chance worauf?«
    »Das Opfer zu finden, bevor es stirbt.« Ems Augen suchten wieder den Kinderreim auf dem Bildschirm.

    Fünf kleine Negerlein, die tranken bayrisch Bier …
    »Und wenn er weiter so vorgeht wie zuletzt …« Sie schluckte. »… dann schnappt er sich das Opfer schon eine gewisse Zeit vorher.«
    »Vor was?«, fragte Dr. Bechstein.
    »Bevor er es tötet«, antwortete Zhou anstelle ihrer Partnerin.
10
    »Die ›Zehn kleinen Negerlein‹ gibt es übrigens auch in einer jiddischen Variante.« Gehling ließ sich auf einen der Stühle an der Längsseite des Konferenztisches fallen und knallte seinen Laptop vor sich auf den Tisch. »Man ist sich in der Forschung nicht ganz einig, ob die Verse vor, nach oder zeitgleich mit dem bekannten Kinderlied entstanden sind, aber sie tragen den Titel ›Tsen Brider‹. « Er sah auf den Monitor und rezitierte: »Tsen brider sajnen mir gewesn, hob’n mir gehandelt mit lajn. Ejner is gestorb’n, is geblib’n najn.«
    »Du machst mich wahnsinnig«, rief Em entnervt. »Wer, um Gottes willen, soll denn da noch durchblicken?«
    »Bezeichnend ist, dass der Täter überhaupt einen Abzählreim benutzt«, meinte Koss neben ihr. »Und die Karte, die er Ihnen geschrieben hat, enthält bemerkenswerte Formulierungen.«
    »Die da wären?«
    Er nahm seine Kopie zur Hand und las: »Vor diesem Hintergrund bin ich gespannt, wie Ihre Strategie für die Zukunft lautet: Kooperation oder Verrat? Master oder Servant? Lösen Sie das Dilemma und treffen Sie Ihre Entscheidung, Signora!«
    »Ich kenne den Text«, versetzte Em gereizt.
    Die Karte, die er Ihnen geschrieben hat …
    »Auch wenn das in diesem Zusammenhang fast zynisch klingt, muss man feststellen, dass der Täter stets überaus persönliche Briefe schreibt«, führte Koss weiter aus, ohne auf ihren Einwurf einzugehen. »Er berücksichtigt Theo Dorns jüdische Herkunft ebenso wie die dunklen Geheimnisse seiner Opfer. Und bei Ihnen«, er sah wieder Em an, »weist er ganz klar auf etwas hin, das er offenbar als Gemeinsamkeit zwischen Ihnen beiden begreift.«
    »Sie meinen die Sache mit Sarah Kindle?«
    Er nickte. »Und der Täter weiß auch, dass Sie Frau Kindle für schuldig hielten.«
    »Das war nicht besonders schwer zu erraten«, erwiderte sie. »Praktisch jeder hielt sie für schuldig.«
    »Schon …« Er nahm seine Brille ab und wischte flüchtig über die Gläser. »Aber er spricht auch von Ihrem Wiedersehen. Das würde er nicht schreiben, wenn er es nicht genauso meinte.«
    »Sie denken, ich bin ihm schon mal begegnet?«
    »Bewusst oder unbewusst, ja.«
    »Und wo?«
    Er überlegte. »Da er so penetrant auf der Sarah-Kindle-Geschichte herumreitet, würde ich annehmen, irgendwo in diesem Umfeld.«
    »Ich bin insgesamt dreimal in diesem Zusammenhang bei Gericht gewesen«, resümierte Em nach einem Moment des Nachdenkens. »Beim ersten Mal hat man mich praktisch sofort wieder heimgeschickt, weil es irgendeine Verzögerung gegeben hatte und meine Aussage auf den nächsten Tag verschoben wurde. Das war dann die zweite Gelegenheit. Und das dritte Mal war ich privat dort. Und zwar bei der Urteilsverkündung.«
    Koss setzte seine Brille wieder auf und lächelte. »Der Täter benutzt auch Begriffe wie Dilemma oder Master and Servant . Und das wiederum deutet darauf hin, dass er sich mit Spieltheorie befasst.«
    Em zog die Stirn in Falten. »Was genau meinen Sie mit Spieltheorie?«
    »Ein bestimmtes Teilgebiet der Mathematik.« Er lehnte sich zurück. »Unter Master and Servant versteht man zum Beispiel eine bestimmte Strategie innerhalb des so genannten Gefangenendilemmas.«
    Em angelte sich die Kaffeekanne aus der Mitte des Tischs. »Ist das nicht diese Geschichte, wo zwei Straftäter getrennt voneinander vernommen werden und man ihnen gezielt das Angebot unterbreitet, durch Verrat an ihrem Komplizen mit einer geringeren Strafe davonzukommen?«
    »Genau.« Er schien erfreut. »Vereinfacht gesagt, geht es dabei um die grundsätzliche Entscheidung zwischen Kooperation und Verrat. Wie Sie bereits sagten, werden in der Ausgangsvariante zwei schuldige Untersuchungshäftlinge ohne die Möglichkeit einer Absprache vor die Wahl gestellt, zu gestehen oder zu leugnen, wobei beiderseitiges Leugnen das beste Gesamtergebnis verspricht. Das Dilemma für die Beteiligten besteht wiederum darin, nicht zu wissen, wie sich der jeweilige Komplize

Weitere Kostenlose Bücher