Siebenschön
Bild passte. Ein Zuviel an einschlägigem Wissen, das wie ein Misston in Lina Wöllners klaren Zügen mitschwang.
»Frau Wöllner wurde am 5. November vermisst gemeldet«,riss Gehlings Stimme sie aus ihren Gedanken. »Also genau einen Tag bevor Theo Dorn den dazugehörigen Brief erhalten hat.«
»Wer hat die Vermisstenanzeige aufgegeben?«, fragte Capelli.
»Ihr Mann. Er ist Arzt, genauer gesagt Chirurg.«
»Und Lina Wöllner selbst war …?«
»Hausfrau, wie es scheint«, antwortete Gehling, während er sich in atemberaubendem Tempo durch irgendwelche unsichtbaren Dokumente klickte. »Das Paar hat zwei Kinder, neun und sieben Jahre alt.«
Eine geschiedene Psychologin, eine zweifache Mutter und ein gut zwanzig Jahre älterer Mann, resümierte Zhou. Wo ist da der rote Faden?
»Was ist mit dem Mann?«, fragte Decker neben ihr folgerichtig.
Mit Loiserl, ergänzte Zhou in Gedanken.
Das loiserl ging allein in’ Wald und hat kein Dach mehr überm Kopf …
»Alois Berneck.« Auf der Wand erschien wieder die Aufnahme mit dem Schiff und den Weinbergen. »Bernecks Bruder hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben, nachdem Alois sich ein paar Tage nicht hatte blicken lassen.« Gehling sah hoch. »Die beiden haben sich ein Haus geteilt und einander schon allein deshalb praktisch täglich gesehen. Allerdings haben die Kollegen von der Vermisstenabteilung die Sache zunächst nicht so richtig ernst genommen.«
»Natürlich nicht«, winkte Decker ab. »Ein alleinstehender Mann, der ein paar Tage überfällig ist … Das riecht doch eher nach Spaß als nach Verbrechen!«
Ein paar der Zuhörer gaben entsprechende Kommentare von sich. Doch angesichts der Sachlage wagte niemand, laut zu lachen.
»Hinzu kommt, dass Alois Berneck früher ein ziemlich Wilder gewesen zu sein scheint«, ergänzte Gehling mit Blick auf die Daten, die er vor sich auf dem Bildschirm hatte. »Zweimaldrei Monate Führerscheinentzug wegen Trunkenheit am Steuer. Zwei Anzeigen wegen Ruhestörung beziehungsweise Hausfriedensbruch.« Er hielt kurz inne, bevor er hinzufügte: »Außerdem hat er anscheinend auch ziemlich häufig den Arbeitsplatz gewechselt.«
Zhou machte sich eine entsprechende Notiz. »Was hat er beruflich gemacht?«
Gehlings Finger flogen über das Mauspad. »Als junger Mann ist er eine Zeit lang zur See gefahren. Aber nach einem Unfall musste er das an den Nagel hängen und wurde nach einer langen Zeit als Arbeitsloser zum kaufmännischen Angestellten umgeschult.«
»Das hat ihm bestimmt irrsinnig viel Spaß gemacht«, bemerkte Capelli ironisch.
»Bestimmt.« Gehling grinste. »Die genannten Probleme fingen übrigens tatsächlich erst an, als Berneck nicht mehr zur See fahren konnte. Und …« Er las stirnrunzelnd weiter. »Ja, wie es aussieht, hat er auch so was wie eine Therapie gemacht. Allerdings ist das noch nicht lange her.«
»Eine Therapie?« Zhou wurde augenblicklich hellhörig. »Weswegen?«
Gehling murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin, während er sich durch weitere Fenster klickte. »In den Unterlagen seiner Krankenversicherung ist vermerkt, dass er wegen Schlafstörungen und Angstattacken in Behandlung war.«
»Und Jenny Dickinson war Psychologin«, ergänzte Capelli.
»Sie glauben, da könnte es eine Verbindung geben?«, fragte Makarov.
»Irgendetwas müssen die Opfer doch schließlich gemeinsam haben, oder nicht?«
Jemand sagte halblaut: »Ihren Mörder.«
»Über den oder die behandelnden Ärzte oder Therapeuten kann ich hier auf den ersten Blick nichts finden«, verkündete Gehling bedauernd. »Aber es ist natürlich kein Problem, das rauszukriegen.«
»Interessant ist auch, was der Täter selbst über Alois Berneck schreibt«, meldete sich Sebastian Koss zu Wort, den Makarov zu dieser Besprechung hinzugebeten hatte.
Das Alter des Polizeipsychologen hatte Zhou überrascht, Koss schien kaum älter als sie selbst zu sein. Doch seine ruhige, zurückhaltende Art war ihr auf Anhieb sympathisch, und nach allem, was die Kollegen ihr zugeraunt hatten, machte er seine mangelnde Erfahrung offenbar spielend durch Fachkompetenz und Instinktsicherheit wett.
»Der Schreiber nennt Berneck das arme Loiserl«, zitierte Makarov.
Koss nickte. »Und obendrein schreibt er dieses Loiserl klein …«
»Hat das eine Bedeutung?«
Der Polizeipsychologe beugte sich über eine Kopie der Briefe. »Auffällig ist, dass der Absender die Namen seiner Opfer grundsätzlich kleinschreibt, während er mit seinen Adressaten
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