Siebenschön
beginnt die sogenannte Talionsformel in der Tora, die in abgewandelter Form noch heute in verschiedenen islamischen Ländern Teil der offiziellen Rechtsprechung ist.«
»Auge um Auge, was?«, brummte Makarov.
»Vergeltung durch Zufügen gleichen Übels«, nickte der Psychologe. »Ein Prinzip, das uns heute zugegebenermaßen reichlich martialisch erscheint. Dennoch gehen viele Historikerund Theologen mittlerweile davon aus, dass die Formel ursprünglich sogar eher dazu diente, das krasse Ungleichgewicht zwischen einem unter Umständen recht harmlosen Vergehen und der daraus folgenden Strafe einzudämmen.«
»Ich fürchte, das müssen Sie mir erklären«, stöhnte Em, ohne den Blick von den Fotos an der Wand zu nehmen. Zwei tote Frauen. Zwei tote Männer. Und ein Unbekannter, der verschrobene Briefe schrieb … Was für ein Fall!
»Wenn ein Mann einem anderen einen Zahn ausgeschlagen hatte, konnte es zu jener Zeit durchaus passieren, dass er dafür mit seinem Leben bezahlte«, kam Koss ihrer Bitte um Erklärung bereitwillig nach. »Vor allem, wenn sein Stand niedriger war als der des Opfers. Nach dem sogenannten ius talionis hingegen hätte er als angemessenen Schadensersatz lediglich einen Zahn zu opfern gehabt.«
»Aber der Mann, den wir suchen, schlägt seinen Opfern keine Zähne aus, sondern nimmt ihnen das Leben«, widersprach Em. »Und zwar auf nicht gerade sanfte Weise, um es mal vorsichtig auszudrücken. Bedeutet das also im Umkehrschluss, dass er sie für Mörder hält? Oder handelt er einfach unangemessen?«
»Schwer zu sagen.« Über Koss’ jugendliche Züge huschte ein Lächeln. »Ich wollte Sie lediglich darauf hinweisen, dass ihn solche Fragen offenbar beschäftigen.« Seine Hand tastete wieder nach den Briefen. »Er wertet ganz unverblümt: Lina Wöllner ist keine Dame. Jonas Tidorf bezeichnet er gar als Schwein. Und er deutet auch an, dass Alois Berneck – salopp gesprochen – Dreck am Stecken hatte.«
»Hä?«, machte Decker.
» Unglaublich, nicht wahr, dass es ausgerechnet einer, der das Gesetz sogar in seinem Namen trägt, so wenig für nötig hält, sich auch daran zu halten … «, zitierte Koss aus dem ersten der beiden Briefe, die sie bei Theo Dorn gefunden hatten.
»Loi!«, rief Em, die plötzlich erkannte, worauf der Psychologe hinauswollte. »Das französische Wort für Gesetz.«
Koss nickte. »Genau.«
»Aber was hatte Berneck denn schon groß getan?«, protestierte Decker. »Ein paar Geschwindigkeitsübertretungen und ein bisschen Ärger wegen Ruhestörung rechtfertigen ja wohl kaum, dass man ihm deswegen gleich eine Ladung Schrot in den Rücken jagt, oder?«
»Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass ein solcher Täter objektive Maßstäbe anlegt«, hielt Koss ihm entgegen.
Em angelte sich eine Kaffeetasse aus dem Geschirrständer in der Mitte des Tisches. »Oder aber, die genannten Bagatelldelikte sind in Alois Bernecks Fall nur die Spitze des Eisbergs«, mutmaßte sie, während ihr gleichzeitig einfiel, dass Lina Wöllner eines Tötungsdeliktes verdächtigt, aber nie angeklagt worden war.
Ihre Mutter war schwer herzkrank, weshalb sie mehrmals täglich, vor allem nachts, ein spezielles Spray benötigte. Es stand immer griffbereit auf dem Nachtschrank, nur in der besagten Nacht war es nicht da …
Ihre Augen blieben an dem gepflegten, aber kühlen Gesicht auf dem Foto hängen. Lina Wöllner kam ihr vor wie eine moderne Cinderella, die nach einem Leben voller Höhen und Tiefen schließlich mit eingeschlagenem Schädel auf einem chromblitzenden Autopsietisch gelandet war.
»Ich habe Berneck durch alle einschlägigen Datenbanken gejagt«, erklärte unterdessen Sven Gehling. »Falls er sich über die genannten Bagatelldelikte hinaus noch etwas anderes hat zuschulden kommen lassen, ist es zumindest nicht aktenkundig …«
»Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang hilfreich zu wissen, aus welchem Grund er sich in psychotherapeutischer Behandlung befand.« Zhou blickte Decker an. »Haben Sie, was das betrifft, schon irgendwas rauskriegen können?«
»Du«, korrigierte er sie gewohnt flapsig. Doch Em hatte trotz allem den Eindruck, dass er verlegen war.
»Entschuldigung«, sagte Mai Zhou, ohne eine Miene zu verziehen.»Hast du dazu schon irgendwas in Erfahrung bringen können?«
Decker zuckte die Achseln. »Sein Bruder behauptet, dass er unter schweren Albträumen gelitten hat.«
»Wer nicht?«, gab Em zurück, und sie hatte das unbequeme Gefühl, als ob Zhou bei diesen
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