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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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ausgedehnten schwarzen Verfärbungen unter dem Plastik.
    Anstelle einer Antwort trat Khalaf hinter einen Stapel Sommerreifen in der Ecke des Kellerabteils und zog eine schwere schwarze Plane zur Seite.
    »Die Kollegen haben hier schon alles fotografiert«, erklärte er, »du kannst dich also ganz ungeniert umschauen.« Seine tief liegenden Augen streiften Zhou und kehrten fragend zu Em zurück.
    »Frau Zhou«, sagte Em. »Eine neue Kollegin.«
    Anstelle eines Händedrucks tippte Khalaf sich grüßend an die Stirn. »Da haben Sie ja einen tollen Start erwischt.«
    »Oh ja«, entgegnete Zhou. »Das kann man wohl sagen.«
    Angesichts der unüberhörbaren Ironie hob Em die Brauen.
    »Was macht denn übrigens Viktor?«, wandte Khalaf sich wieder an Em. »Geht’s ihm gut?«
    »Keine Ahnung«, antwortete Em, die wenig Lust hatte, sich zu verstellen. Nicht hier und nicht jetzt.
    Khalaf war sichtlich irritiert, wagte aber nicht, noch mehr zu fragen.
    Em grub ihre Hände tiefer in die Taschen ihrer Daunenjacke und trat an ihm vorbei. Sie hatte schon an vielen Tatorten gestanden, und nach den Erfahrungen der letzten beiden Tage hatte sie sich auf einiges gefasst gemacht. Doch das Bild, das sich ihr jetzt bot, ließ ihr trotz allem das Blut in den Adern gefrieren: Ein junger Mann, vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig, lag mit durchstochenem Kehlkopf auf einer staubigen Holzpalette. Den großflächigen Verfärbungen auf dem Boden nach zu urteilen, war der Körper komplett ausgeblutet, die Gesichtshaut zeigte bereits an mehreren Stellen Spuren von Verwesung.
    Wenn wir davon ausgehen, dass er noch vor Lina Wöllner und Alois Berneck gestorben ist, überlegte Em, dann dürfte er etwa seit Mitte Oktober tot sein.
    Dazu passte auch die Bekleidung des Mannes: weißes Kurzarm-T-Shirt, graue Sweatjacke und helle Sommerjeans.
    »Das hier lag neben der Leiche«, erklärte Khalaf und reichte ihr ein Beweistütchen aus Plastik. Darin befand sich ein schwerer, gebogener Metallhaken mit Karabinerverschluss.
    »Was ist das?«, fragte Zhou hinter ihr.
    »In der Fachsprache nennt man es einen Rohrbahnhaken.«
    »So was benutzen Metzger, oder?«
    Khalaf nickte. »Man hängt zum Beispiel Rinderhälften daran auf.«
    »Und rein zufällig befinden wir uns hier auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofs«, ergänzte Em.
    Du findest das Schwein in Sachsenhausen …
    Khalaf verzog seine schön geformten Lippen zu einem sarkastischen Lächeln. »Das ist doch mal ’ne richtig durchdachteSache, oder? Aber damit noch nicht genug.« Er ging neben der Leiche in die Knie und griff unter das Kinn des Toten. »Warte, bis du die andere Hälfte seines Gesichts gesehen hast.«
    Bitte nicht, durchfuhr es Em, nicht noch mehr Grauen!
    Doch ihr stummes Flehen fand kein Gehör. Khalaf drehte den Kopf des jungen Mannes zur Seite. Neben ihr schnappte Zhou hörbar nach Luft.
    »Kein schöner Anblick, was?« Der Einsatzleiter legte beide Hände auf sein rechtes Knie und stemmte sich mühsam hoch. Seine Gelenke knackten. »Arthrose«, kommentierte er unsentimental. »Kann man nichts dran machen.«
    Em schenkte ihm ein bedauerndes Nicken und beugte sich dann zu dem Toten hinunter. Das Fleisch über Jochbein und Schädel war auf dieser Seite aufgequollen und bräunlich rosa verfärbt. Der Anblick verursachte ihr Übelkeit, doch sie kämpfte den Brechreiz nieder. »Das sieht aus wie verbrüht«, konstatierte sie atemlos.
    »Darf ich mal?«, fragte Dr. Bechstein hinter ihr.
    »Sicher.«
    Die Pathologin, die sich inzwischen ihrer Wollhandschuhe entledigt hatte, schob sich an ihr vorbei und ging dann ebenfalls neben der Palette in die Hocke. Em und ihre Kollegen beobachteten schaudernd, wie ihre Finger routiniert über das zerstörte Gewebe glitten, hier und da ein Stück gelöste Haut anhoben und anschließend sorgfältig, fast liebevoll wieder festdrückten.
    »Sie haben recht«, befand sie, als sie wieder hochkam. »Diese Verletzungen wurden eindeutig durch Verbrühungen hervorgerufen.«
    »Wie bringt man so was zustande?«, fragte Em.
    Dr. Bechstein zuckte die Achseln. »Durchaus möglich, dass er einen haushaltsüblichen Dampfreiniger benutzt hat. Wenn Sie den nahe genug an das Gesicht halten …« Sie ließ den Satz offen und sah Khalaf an.
    »Können Sie uns schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Em.
    »Machen Sie Witze?«
    »Nein. Durchaus nicht.«
    Dr. Bechsteins Igelaugen fixierten einen Punkt zwischen Ems Brauen. »Verdammt, Capelli, Sie wissen genau, wie das

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