Siebenschön
empfunden hatte. Im Gegenteil. Sie liebte es, Berge abzutragen, ganz egal, wie hoch sie waren. Sie hatte schon als Kind einen Großteil ihrer Zeit im Ballettsaal verbracht und dort Tag für Tag, Woche für Woche brav und gewissenhaft die gleichen Übungen absolviert. Die erlernte Technik auf der Bühne anzuwenden und mit dem zu unterlegen, was man gemeinhin Ausdruck nennt, war ihr hingegen viel schwerer gefallen. Und Ähnliches galt auch heute: Sie absolvierte fleißig und gern ihre Übungen auf dem Schießplatz oder im Kraftraum, während die Arbeit auf der Straße ihr nach wie vor das Gefühl vermittelte, mehr oder weniger hilflosin einem Meer von Möglichkeiten zu paddeln. Unwägbarkeiten in Kauf zu nehmen, ohne sich davon irritieren zu lassen, war für sie schlicht und ergreifend der blanke Horror. Und doch war ihr bewusst, dass sie genau das schnellstmöglich lernen musste, wenn sie auf Dauer in diesem Beruf bestehen wollte.
Lerne schwimmen, statt auf die Ebbe zu warten , stimmte ein imaginärer Ya Dao ihr zu.
»Wie man die Sache auch dreht und wendet«, riss Capellis Stimme sie aus ihren Gedanken, »Westen bleibt die einzige Schnittmenge in diesem verdammten Fall.«
Zhou drehte sich zu ihrer Partnerin um und sah, dass sie Koss im Schlepptau hatte. Sie lächelten einander flüchtig zu, und Zhou hatte das unbestimmte Gefühl, dass er sie mochte. Auch wenn sie bislang keine drei Worte miteinander gewechselt hatten.
»Die Opfer haben in verschiedenen Gegenden gewohnt.« Capelli knallte einen Stapel Kopien auf ihren Schreibtisch. »Sie haben in unterschiedlichen Kneipen verkehrt, unterschiedliche Internetseiten besucht, sie hatten einen unterschiedlichen Freundeskreis und grundverschiedene Hobbys. Einzig in Westens Praxis kamen sie alle zusammen …«
»Wobei Berneck und Tidorf von sich aus hingingen«, merkte Zhou an, »während die beiden Frauen gezielt mit Westen zusammengebracht wurden. Und das, obwohl allein diese Donnerstagsgruppe siebzehn weitere Möglichkeiten geboten hätte, ein Opfer zu finden.«
»Wenn es allein um den Bezug zu Westen ginge, hätten Sie recht«, nickte Capelli. »Aber diesem Täter geht es, wie wir wissen, auch um Schuld.« Sie drehte sich zu Gehling um, der in diesem Augenblick an seinen Schreibtisch zurückkehrte und den letzten Teil der Unterhaltung mitbekommen hatte. »Was ist mit Jenny Dickinson?«, fragte sie. »Hast du in ihrer Vergangenheit inzwischen was gefunden, das in dieses Muster passen könnte?«
»Und ob«, rief Gehling, und Zhou sah, wie Koss interessiert den Kopf wandte.
»Nämlich?«, fragte Capelli.
»Wie wir wissen, kam Jenny Dickinson als Au-pair nach Deutschland«, antwortete Gehling. »Und während dieser Zeit hat sie bei insgesamt drei verschiedenen Familien gearbeitet. Die zweite stammte ursprünglich aus Persien beziehungsweise dem Iran, ein erfolgreicher Immobilienmakler mit seiner Frau und zwei Töchtern, in dessen Haushalt sich ein folgenschwerer Unfall ereignete, während Jenny dort Dienst tat.«
Gespannt folgte Zhou ihrer Partnerin und Koss zu Gehlings Schreibtisch, wo der Kollege mit wenigen Mausklicks die Kopie einer Todesanzeige aufrief.
Am 27. 07. 1994 verstarb durch einen tragischen Unglücksfall unsere geliebte Tochter Nurja,
* 08. 01. 1992
»Das Kind ertrank im Gartenteich«, erläuterte Gehling, »und Jenny Dickinson behauptete damals, Raya, die ältere Schwester der Kleinen, habe versehentlich das Gatter offen gelassen, das den Teich eigentlich sichern sollte.«
»Lass mich raten!« Capellis Zeigefinger tippten auf die Lehne von Gehlings Stuhl. »Die Schwester behauptete was anderes.«
Gehling nickte. »Sie war allerdings erst sechs damals.«
»Und deshalb schenkte man ihr keinen Glauben?«
»Das würde ich so nicht mal sagen. Immerhin warf die Familie Jenny unmittelbar nach dem Unfall aus dem Haus. Und das, obwohl sie damals ebenfalls erst siebzehn war und nichts hatte, wo sie hätte hingehen können. Sie musste ein paar Nächte im Frauenhaus schlafen, bevor ihr einer der Sozialarbeiter dort eine neue Stelle besorgte.«
»Und der Unfall wurde zu den Akten gelegt?«
»So ist es.« Gehling nahm sich einen Energydrink aus dem Minikühlschrank, der neben seinem Rechner stand. Dergleichen war natürlich nicht erlaubt, doch Gehling behauptete steif und fest, ohne eisgekühltes Koffein nicht vernünftig denken zukönnen, und Makarov drückte ein Auge zu. »Alles, was die Kollegen damals gegen Jenny Dickinson in der Hand hatten,
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