Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Swing
A-wing-ahin-hin
Und er, der noch nie auch nur eine Zehe auf einen Tanzboden gesetzt hatte, träumte in jener Nacht, er würde mit Ségolène in der so unwahrscheinlichen wie bunt zusammengewürfelten Szenerie einer feiernden Stadt, einer Kreuzung aus Vieux-Québec und Pointe-à-Pitre, bald einen frenetischen Rigaudon auf der vereisten Fläche der Place d’Youville, bald einen wilden Gwo-Ka in der duftenden Schwüle der Place de la Victoire tanzen. Und Ségolène lachte und drehte sich unermüdlich im Kreis, während ihr Haar durch die Dunkelheit peitschte.
13
Am ersten Montag im März traf aus Frankreich ein an Gaston Grandpré adressiertes Päckchen ein. Es enthielt ein von diesem persönlich verfasstes Manuskript mit dem Titel ›Enso‹, auf dessen Deckblatt ein schwarzer Kreis mit ausgefransten Konturen prangte. Wieder jener rätselhafte Kreis, jenes »O«, das überall auf den Unterlagen des Verstorbenen zu finden war. Dem Dokument war ein kurzes Schreiben des Herausgebers der Reihe »Poésie en liberté« der Éditions du Roseau in Paris beigefügt, in dem dieser zwar einräumte, dass das Werk gewisse Qualitäten besitze, jedoch bedauerte, dass es für eine Veröffentlichung leider nicht in Betracht komme. Bilodo blätterte das Manuskript durch, das aus nur etwa sechzig Seiten bestand, auf denen jeweils ein einziges Haiku abgedruckt war. Es verwunderte ihn kaum, dass ihm das allererste Gedicht nicht unbekannt war:
So wie das Wasser
den Felsen umspült
verläuft die Zeit in Schleifen
Die folgenden Haikus waren ihm ebenfalls vertraut. Er hatte sie wiederholt gelesen, allerdings in leicht abgewandelten Fassungen:
Kreischende Möwen
von Osten eingefallen
zum Hexensabbat
Rückgrat aus Granit
Verwirrspiel aus Rottannen
und endlich der Strand
Großartiger Schwung
Oh! Der vollkommene Schlag
jenes Golfspielers!
Sein phantastischer Schläger
befördert den Ball
bis zu den Sternen
Nachdem er Grandprés Haikus bislang immer nur aufs Geratewohl überflogen hatte, indem er sich aus dessen Wust von Papieren das eine oder andere Gedicht gefischt hatte, war es für Bilodo eine gänzlich neue Erfahrung, sie in der speziellen Reihenfolge zu lesen, die ihr Autor für sie vorgesehen hatte. Diese Anordnung verlieh ihnen eine gleichsam beschwörende Kraft. Je weiter Bilodo im Manuskript blätterte, desto stärker hatte er das Gefühl, auf ein geheimes Ziel zuzusteuern, gegen seinen Willen einem unausweichlichen Schicksal entgegenzugehen. Die Haikus gerieten in Resonanz, schufen eine mentale Musik, deren Rhythmus einen nicht mehr losließ. Sie erzeugten in ihm ein archetypisches Gefühl von »Déjàvu« – als hätte er alles schon einmal erlebt oder vielmehr geträumt – und beschworen aus der Tiefe seines Gedächtnisses uralte Bilder herauf:
Finsternis in der Tiefsee
ein Wort ohne Sinn
dort tötet das Licht
Ein Brustkorb ganz blank geputzt
So ist der Lauf der
Aas fressenden Zeit
Nach dem Horizont
hinter die Kulissen späh’n
den Tod umarmen
Freut euch Tritonen
und ihr Sirenen
der Prinz ist nämlich zurück
Dunkel und dennoch leuchtend folgte ein Haiku auf das andere, eine ganze Reihe von phosphoreszierenden Tiefseefischen. Weil ihn der Titel der Gedichtsammlung nicht mehr losließ, schlug Bilodo im Lexikon unter
Enso
nach, ohne fündig zu werden. Als er sich dem Internet zuwandte, sah er mit Befriedigung auf dem Bildschirm etliche Querverweise erscheinen, die alle mit ähnlichen Kreisen wie dem auf dem Deckblatt versehen waren, und stellte fest, dass es sich um ein traditionelles Symbol des Zen-Buddhismus handelte. Der
Enso
-Kreis repräsentiere die geistige Leere (
s atori
), über die man zur Erleuchtung gelange. Dieses seit Jahrtausenden von den Zen-Meistern gemalte Motiv sei der Ausgangspunkt für eine Meditation über das Nichts. Mit einem einzigen einfachen, ununterbrochen, ohne Zögern oder Überlegen ausgeführten Pinselstrich vermöge der Kreis den mentalen Zustand des Künstlers zu offenbaren: Ein starkes, wohl ausgewogenes
Enso
könne man nur dann hervorbringen, wenn der Geistklar und frei von jeglichen Gedanken, von jeglicher Absicht sei.
Bei seinen weiteren Nachforschungen stellte Bilodo fest, dass der Zen-Kreis auf vielfältige Weise ausgelegt werden konnte: als Vollkommenheit, Wahrheit, Unendlichkeit, Einfachheit, Lauf der Jahreszeiten oder auch rotierendes Rad. Alles in allem symbolisierte
Enso
die Schleife, das
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