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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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schienen sie Lichtgeschwindigkeit erreichen zu wollen. Da schickte ich sie alle zum Teufel und wandte mich Jimmy zu.
    »Jimmy, es stimmt gar nicht, dass du zurückgeblieben bist.«
    »Hat dir das mein Bruder gesagt?«
    »Ja.«
    »Das sagt er wegen der Kleider.«
    »Aber mal im Ernst, was macht ihr mit den Klamotten?«
    »Ich verhunze sie doch bloß, um mir einen Spaß mit ihnen zu erlauben.«
    »Ach wirklich? Und wieso?«
    Er zog mit übertriebenen Bewegungen ein Comicheft aus dem Rucksack. Fing an zu lesen. Auf dem Titelbild sah man unter einem grotesken Gesicht, das lachte und einen Hammer in der Hand hatte, die aufgeblasenen und roten Buchstaben des kantigen japanischen Alphabets für ausländische Wörter. Und darunter die chinesische Übersetzung.
    »Jimmy?«
    Er antwortete mir nicht. Seine Pupillen wanderten über die Bildchen hinweg. Ab und zu lachte er mit seinem XXL -Mund. Das rote, glitschige Zahnfleisch sah aus wie rohes Fleisch.
    Ich schaute aus dem Fenster.
    Auf den Feldern einzelne Häuser, alle verschieden. Niedrige oder hohe, mit Dächern oder flach, dunkelbraun oder kirschrot, kamelfarben mit dunkelbraunen Schattierungen, oder auch ocker mit schwarzen Verzierungen. Nur die Fenster waren immer gleich, weiße Rahmen mit weißen Fensterläden, und immer alles verrammelt. Ein deutliches Zeichen für die Anwesenheit von Menschen wäre ein unverzeihlicher Stilbruch gewesen.
    Sie zogen wie der Blitz vorbei, diese Häuser. Was man sah, waren nur Lichthöfe ohne Umrisse, verschwommene Visionen. Die Farben blätterten ab, sie mischten sich mit den traubenförmigen Rauchwolken, die aus den Schornsteinen stiegen, und wurden zu allen Farben des Universums.
    Weil sie einfach zu schön waren, diese Häuser, um so stillzustehen, dass man an den Tod denken musste.
    »Sagst du es mir, Jimmy, warum du die Klamotten verunstaltest?«
    Er hob das lange Totemgesicht.
    »Schau doch, Camelia, die Pferde! Mir gefällt das weiße da.«
    Der Monat, der an jenem Tag begann, auch wenn es bereits der zwölfte war (das verkündete mir das Orakel der Digitaluhr von Jimmy) war ein März, der so seltsam und aufregend war, dass ich ihn gar nicht mehr März nennen kann. Er muss einen jungfräulichen Namen aus erster Hand erhalten, den noch nie jemand ausgesprochen hat.
    Einen Namen, der dir, wenn du ihn aussprichst, sogleich den Geruch von verbrannter Erde zurückbringt, der sich auf den Straßen ausbreitete und dann im starken Duft des Meeres versteckte. Und dann war da noch etwas anderes, ein bedrohlicher Odem darunter, nach Bratfisch und auch nach Benzin, aber all diese Gerüche trugen nur einen einzigen Geruch in sich, und das war der des Samens von Jimmy.
    »Ich muss lachen, weißt du das, Camelia?«
    »Wieso?«
    »Weil du supertoll und superbesonders bist.«
    »Hhmmm.«
    »Jetzt ist mein Leben schöner geworden.«
    Das Meer war flach und durchsichtig, und auf dem Sand zog sich eine dichte Reihe von grünen und weißen und braunen Häuschen entlang, alle in verschiedener Höhe, die aneinander klebten, eine Orgie aus Backstein, die sich mühselig über der Gischt erhob. Am Ende der Häuser ein weißer Leuchtturm.
    Ich schaute Jimmy an, betrachtete die Beschaffenheit seiner Fingerknöchel über diesen kilometerlangen Fingern. Wenn auf der Welt ein Idiot zu seiner Freundin sagt: »Für dich würde ich den Mond vom Himmel holen«, dann müsste man ihm eigentlich sagen, dass es tatsächlich jemanden gibt, der Finger hat, die lang genug wären, um es wirklich zu tun. Aber ich will ihn gar nicht, den Mond.
    Jimmy setzte sich in den Sand, und ich setzte mich neben ihn. Er griff mir mit einer seltsamen Bewegung in die Haare, als wollte er mich entlausen.
    »Gefalle ich dir sehr, Camelia?«
    »Das ist kompliziert.«
    »Was ist kompliziert?«
    »Lass gut sein.«
    »Kommst du mit mir wohin?«
    »Wohin denn?«
    »Komm.«
    Er zog sich die Klamotten aus und hatte nur eine Badehose drunter. Ich zog mich auch aus. Ich lief mit ihm den ganzen Strand entlang, bis kein Mensch mehr da war und man nur noch das Rauschen des Meeres hörte. Er sprang ins Wasser, ich hinterher. Das Wasser war eiskalt, die Knochen in meinem ganzen Körper waren auf einmal hellwach. Ich schaute unter Wasser in den Schlund der Abgründe, sah die Fische wie flinke Schatten vorbeihuschen, sah das Lichtnetz, das sich über den Felsen bewegte und sie unsanft zum Leben erweckte. Alles flüchtete in die Unbewegtheit, alles, auch die abgewetzten Münzen schwebten zu einem anderen

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