Sieg des Herzens
Hand, die Sissy Warden, das Mädchen, das mit Jesse Halston arbeitete, ihr geschickt hatte. Es war ein ganz kurzes Schreiben, eine freundliche Geste von Sissy und auch von dem Reiter, der, von Washington kommend, an persönlichen Schreiben mitgenommen hatte, was in seine Satteltaschen paßte.
»Beiden McKenzies geht es gut«, schrieb Sissy, »Sydney kann ich von Tag zu Tag besser leiden. Julian arbeitet sehr hart im Alten Kapitol und hat sich scheinbar an seinen Aufenthalt dort gewöhnt. Meine besten Wünsche für Sie. Ich hoffe, daß wir uns einmal Wiedersehen, wenn - wie die meisten Leute nun zu sagen pflegen - dieser furchtbare Krieg vorbei ist.«
Rhiannon zog die Knie an die Brust und dachte wieder an ihren Traum. Es kam ein Sarg darin vor, aber Sissy hatte geschrieben, daß es Julian gutginge. Wahrscheinlich narrten sie ihre Träume nur.
Sie saß immer noch so da, als sie ein Geräusch hörte. Sofort drehte sie sich um und war erstaunt, General Magee direkt hinter sich stehen zu sehen, der auf sie niederblickte. Schnell sprang sie auf, um ihn zu begrüßen: »General, Sir.« Beinah hätte sie noch salutiert, so wie die Soldaten.
»Mein liebes Kind, kommen Sie mal her zu mir.« Und mit diesen Worten hielt er ihr die Arme entgegen.
Rhiannon hatte schon die ganze Zeit befürchtet, daß irgend etwas passieren könnte: mit Risa, die als Nordstaatlerin in Florida kaum sicher war, oder daß man Jerome getötet haben könnte - oder sonst irgendeine schreckliche Nachricht, die sowohl sie als auch den General betraf. Vielleicht war auch Ian McKenzie verletzt worden. Aber nein, so wie der General sie ansah und ihr die Arme entgegenstreckte, war es etwas anderes. Sie bekam vor Schreck einen ganz trockenen Mund und brachte nur mit Mühe heraus: »Ist etwas mit Julian...?«
»Rhiannon, bitte kommen Sie erst mal her zu mir. Es gibt da so ein Gerücht, daß er...«
»Daß er was?«
»Er ist nicht mehr da. Er wird vermißt.«
»Vermißt? Im Alten Kapitol?« Sie spürte, wie ihr Herz bei diesem Gedanken wie wild zu hämmern begann, und fügte entschieden hinzu: »Dann ist er geflohen!«
General Magee schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: »Sie haben sehr viele Tote aus dem Gefängnis geschafft. Und man hat erst festgestellt, daß er nicht mehr da war, nachdem man die toten Rebellen fortgebracht hatte. Ich fürchte, daß...«
Rhiannon dachte wieder an ihren Traum mit den Särgen und fiel in Ohnmacht.
Da waren sie wieder, die Särge in ihrem Traum - eine ganze Parade. Sie bewegten sich einer neben dem anderen und in endlosen Reihen hintereinander. Sie wurden nicht von
Soldaten getragen, sondern von verhüllten Gestalten mit einer Sense - einer ganzen Armee von Schnittern, die gekommen waren, um die Toten zu holen. Die vermummten Gestalten stießen ein irres Gelächter aus, während ihre knochigen Hände sich um die Nadelholzkisten krallten. Nur der Tod konnte sich am Krieg weiden. Er war der eigentliche Sieger.
Der Marsch ging weiter, und Rhiannon befand sich zwischen den Sensenmännern und rannte und rannte. Aber sie konnte das Ende des Zuges einfach nicht erreichen. Sie war auch nicht in der Lage, nachzusehen, ob sich vielleicht noch Lebende unter den Toten befanden, da die skelettierten Hände sich dann auch nach ihr ausstreckten.
Erschrocken fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Es war dunkel, und sie befand sich in einem der Zelte des Armeelagers, und da war jemand neben ihr, der ihr beruhigend übers Haar strich. Jetzt konnte sie erkennen, daß blaue Augen sie aus einem ihr wohlbekannten, schön geschnittenen Gesicht ansahen, das dicht über ihrem schwebte. Ihr Herz begann vor freudiger Erregung wie wild zu schlagen und setzte beinah wieder aus, als sie erkannte, daß es gar nicht Julian war.
»Rhiannon, ich werde ihn finden«, sagte eine Stimme.
»Ian?« Trotz allem war sie froh, ihn zu sehen. Seit der Schlacht bei Gettysburg hatte sie nichts mehr von ihm gehört und wußte auch nicht, wohin er abkommandiert worden war, nachdem er in Washington Meldung gemacht hatte. Ohnehin war es in diesen Zeiten ein gutes Gefühl, ein bekanntes Gesicht lebend wiederzusehen. Aber es war der falsche Bruder, und sie hatte solche Angst um Julian.
»Ich finde ihn, mach dir keine Sorgen. Ich werde versuchen, den Leichenzug einzuholen, der nach Süden geführt wird, wo man die Toten einer Einheit von Rebellen übergibt, die dem Zug entgegenreiten, um ihre toten Kameraden zu übernehmen. So oder so werden wir bald herausbekommen,
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