Sieg des Herzens
häufig am eigenen Leibe erfahren müssen, wie lebenswichtig es sein konnte, schnell ein gutes Versteck zu finden.
»Hier bin ich, großer Bruder«, rief Julian ihm schließlich
zu.
Nur Ians Augen folgten der Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Obwohl er sie sofort als die seines Bruders erkannt hatte, riskierte er nichts: Die Mündung seines Colts war direkt auf Julians Herz gerichtet.
»Ich bin allein.«
»Das sehe ich.«
Ian steckte die Waffe wieder in den Halfter, saß ab und ging auf Julian zu, der ihm zulächelte. Sie begrüßten sich mit einer besonders herzlichen Umarmung, da sie sich in letzter Zeit immer seltener trafen. Dann trat Julian einen Schritt zurück und sah Ian forschend an, bevor er fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung? Warum bist du hier? Solltest du nicht eher irgendwo auf einem Feldzug der Nordstaatler sein? Das letzte, was ich von dir hörte, war, daß du eine vertrauliche Nachricht von Lincoln an einen General überbringen solltest, der im Osten einen Feldzug gegen den Südstaatengeneral Lee anführte.«
»Jemand mußte Befehle nach St. Augustine bringen, und ich bat darum, daß man mir diese Aufgabe übertrug.«
»Das ist ganz schön nett von deinen Vorgesetzten, daß sie dir so häufig erlauben, deine Frau zu besuchen«, bemerkte Julian.
Ian zog eine Augenbraue hoch und sagte mit gespielter Empörung: »Ich bin schon mehrmals hierher beordert worden, aber nicht zum Wohle meiner Familie, sondern weil man glaubt, daß ich viel eher etwas gegen Rebellen wie dich ausrichten kann, weil ich mich hier auskenne.«
»Ich bin Arzt, Ian.«
»Und ich habe gehört, daß du in eine Schießerei verwickelt worden bist.«
»Man hat auf mich geschossen, und ich habe mich verteidigt.«
»Dadurch wirst du zu Freiwild, Julian. Der Feind ist jetzt berechtigt, auf dich zu schießen. Es sind auch schon andere Ärzte in diesem Krieg getötet worden...«
»In diesem Krieg haben auch schon Zivilisten den Tod gefunden, Ian. Was erwartest du denn von mir, daß ich einfach stehenbleibe und abwarte, bis mich die Kugel trifft?«
»Nein, ich fand einfach nur den Gedanken beruhigend, daß du und Brent diesen Krieg überleben würdet, weil ihr als Ärzte eine Sonderstellung genießt. Das ist alles.«
»Wir alle werden ihn überleben«, sagte Julian forsch, den plötzlich ein ganz ungutes Gefühl beschlich. Krieg war etwas Furchtbares, und es konnte einem dabei wirklich angst und bange werden; deshalb war es besser, nicht darüber nachzudenken. Vorher waren sie eine Familie gewesen, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt - nicht nur was ihn und seine Geschwister Ian und Tia anging, sondern auch was ihre Vettern und Cousinen Jerome, Brent, Jennifer und Sydney betraf.
Wie Julian die Situation auch betrachtete: Die Bundesregierung hatte dem Volk der Seminolen, dem die Mutter seines Onkels James angehörte, nur Schmerz und Leid, das Exil und schließlich den Tod gebracht. Deshalb kämpften er und die meisten anderen McKenzies für den Süden. Jerome, James' ältester Sohn, schmuggelte für die Konföderierten. Entschlossen für ein freies Florida zu kämpfen, tat er sein Bestes, um Julian mit den notwendigen Schmerzmitteln und Medikamenten zu versorgen. Dessen jüngerer Bruder Brent war Chirurg in der Armee von Nordvirginia, und Julian und er standen in regem Briefkontakt. Julians Cousine Jennifer hatte eine Zeitlang für die Konföderierten spioniert, nachdem man ihren Mann Lawrence getötet hatte; aber dabei wäre sie beinah selbst umgekommen. Julians Cousine Sydney hatte in verschiedenen Krankenhäusern im Süden gearbeitet und war nun in Washington, um sich um konföderierte Kriegsgefangene zu kümmern.
Julians Schwester Tia arbeitete mit Julian zusammen in der Miliz von Florida. Aber ihr Vater Jarret McKenzie war nach wie vor ein Anhänger der Union, und auch Ian hatte sich für den Norden entschieden, obwohl er ganz genau wußte, daß er damit bei den meisten Familienmitgliedern auf Unverständnis stoßen würde.
Durch diesen Krieg war ihre Familie zerrissen worden, zumal der Vater von Jeromes Frau auch noch ein Nordstaatengeneral war, während Ians Frau im Herzen eine überzeugte Konföderierte geblieben war. Zu allem Überfluß wohnten die beiden Frauen auch noch zusammen in dem von Yankees besetzten St. Augustine. Aber auch wenn jeder von ihnen überzeugt war, die richtige Wahl getroffen zu haben, und sich ihre unterschiedlichen Auffassungen nicht vereinbaren ließen, hatten sie alle schon oft
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