Sieg des Herzens
sie ihm den Umschlag am liebsten entrissen, andererseits wollte sie ihn auch wieder überhaupt nicht haben - sie hatte Angst davor. Wieder sah sie zu Colonel McKenzie hinüber. »Ihre Frau ist also noch hier, ihre Familie und auch einige Anverwandte.«
»Ja.«
Sie wußte genau, was er ihr soeben erzählt hatte, aber sie konnte nicht aufhören nachzufragen.
»Ihre Kinder, Nichten und Neffen?«
»Nicht ganz. Mein Bruder und meine Schwester haben noch keine Kinder.«
»Aber das wird sich sicher bald ändern, nehme ich an.«
Sie war sich bewußt, daß sie ohne Veranlassung ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte, nur um nicht nach dem Umschlag greifen zu müssen, den sie jetzt um alles in der Welt haben wollte.
»Nun, ich denke, einer der beiden wird wohl irgendwann als erster heiraten«, murmelte er.
»Sie sind also noch nicht verheiratet«, stellte Rhiannon scheinbar erstaunt fest.
Aber nun kam Ian McKenzie, der begriffen hatte, daß sie all diese Fragen nur stellte, um von dem Brief abzulenken, zu ihr an die Chaiselongue, kniete sich vor sie hin und gab ihr den Umschlag mit den Worten: »Ich wollte Ihnen nicht noch mehr Kummer bereiten. Ich dachte nur, daß Sie den Brief vielleicht gerne hätten«, erklärte er.
Er war erstaunlich gutaussehend, charmant und nett, und das Mitgefühl in seinen Augen war fast zuviel für Rhiannon. Bevor sie noch ganz die Fassung verlor, flüsterte sie: »Ja, ich möchte ihn gerne haben - unbedingt sogar.«
Tränen traten ihr in die Augen, und sie blinzelte sie weg, bevor sie ihr die Wangen hinunterliefen. Dann nahm sie mit zitternden Händen den Brief.
»Ich lasse Sie in Ruhe lesen und komme später wieder«, sagte Ian McKenzie.
Nachdem er den Raum verlassen hatte, öffnete Rhiannon den Umschlag, erstaunt, daß er nach dieser langen Reise bis zu ihr immer noch so weiß und unbefleckt war. Und während sie den Brief las, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Mein geliebter Schatz,
wenn Du diesen Brief in Händen hältst, heißt das, daß ich bei dem Kampf um die Wahrung der Menschenrechte und der Einheit der Union gefallen bin. Gott weiß, daß wir für eine gerechte Sache kämpfen, und deshalb habe ich keine Angst zu sterben. Ich bedauere nur, daß ich Dich verlassen muß, wo wir doch für immer zusammenbleiben wollten und nur so wenig Zeit miteinander verbringen durften. Ich schreibe diese Zeilen nicht, um Dich noch trauriger zu machen und noch mehr zu belasten, sondern um Dir zu sagen, daß Du immer mein ganzes Lebensglück ausgemacht hast. Du warst immer so entschlossen und tapfer, so unternehmungs- und lebenslustig. (Ja, mein Schatz, natürlich auch starrköpfig, eigensinnig und so weiter!) Aber genau deshalb wirst Du diese furchtbaren Zeiten überstehen, die eine ganze Nation ins Verderben gestürzt haben, und Gott gebe, daß ich Dich vom Himmel aus beobachten und für Dich beten darf damit Du wieder glücklich wirst. Gedenke meiner, aber lebe Dein Leben und genieße alles, was es zu bieten hat. Es könnte kein größeres Verbrechen geben, als wenn Du um meinetwillen auf Dein Lebensglück verzichtetest. Finde Dein Glück! Ich weiß, wie schnell alles zu Ende sein kann. Nimm die schönen Seiten des Lebens wieder an, behalte mich in lieber Erinnerung, aber hör auf, um mich zu trauern.
In Ewigkeit Dein!
Dein Dich liebender Ehemann Richard
Die letzten Worte verschwammen ihr vor den Augen, während sie laut anfing zu schluchzen und das Gefühl hatte, daß ihr der Schmerz das Herz zerriß. Der Brief glitt ihr aus der Hand, während sie sich weinend gegen die Rückenlehne der Chaiselongue schmiegte. Am ganzen Körper zitternd, fragte sie sich nicht zum ersten Mal, was sie bloß falsch gemacht hatte, daß dieser feine Mann sterben mußte.
Julian blieb auf Distanz, beobachtete aber aufmerksam das Haus. Er sah, wie sein Bruder seinen Männern befahl, Wache zu halten, und dann davonritt.
Nachdem Julian sich vergewissert hatte, daß Ian allein unterwegs war, zog er sich wieder in den Kiefernwald zurück, bis er an eine Stelle kam, wo die Bäume so dicht standen, daß es nicht weiterging. Dort stieg er vom Pferd und wartete. Schon bald hörte er einen Reiter näher kommen, der sein Pferd langsam und vorsichtig durch den Wald lenkte. Sein Bruder würde niemals in einen Hinterhalt geraten; dazu wußte er viel zu gut, worauf er achten mußte. Das hatte er nicht nur beim Militär gelernt, sondern auch von ihrem Vater und ihrem Onkel James. James, ein Halbblut, hatte
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