Sieg des Herzens
ihrem sogenannten zweiten Gesicht auf sich hat. Ich denke, sie hat erstaunliche Talente, und dann ist sie auch noch eine Yankee.«
»Soll heißen?«
»Wer weiß, ob man ihre einzigartigen Fähigkeiten eines Tages nicht mal braucht?« erklärte Ian.
Hatte sie wirklich die Gabe, Dinge vorherzusehen? Wenn dem so sein sollte, könnte sie sicherlich auch den Rebellen sehr nützlich sein. Aber sie würde den Miliztruppen bestimmt niemals helfen; und so hörte Julian sich zu seinem Bruder sagen: »Bring sie dazu, daß sie mit dir kommt. Versuch, auf sie einzuwirken. Sie sollte nicht in diesem Haus bleiben.«
»Das werde ich auf jeden Fall tun.« Ians Stimme bebte, als er fortfuhr: »Es war schön, dich zu sehen, kleiner Bruder. Aber ich muß jetzt los. Sie werden mich bestimmt bald vermissen. Ich kann nicht riskieren, daß die Truppen mitbekommen, daß ich mit dem Feind fraternisiere, und ich will auch nicht, daß die Lady dahinterkommt. Sie glaubt nämlich schon, daß ich dich absichtlich verpaßt habe.«
»Und, hast du?«
Ian zögerte. »Nein«, sagte er dann.
Julian lächelte, überzeugt davon, daß sein Bruder log. »Ich danke dir.«
»Ich bin nach wie vor der Ansicht, daß du mehr Leben gerettet als zerstört hast«, erwiderte Ian, als wolle er sich für sein Tun rechtfertigen. »Aber...«
»Du bist derjenige, Ian, der zu viele Risiken eingeht«, fiel ihm Julian hastig ins Wort und fuhr dann kopfschüttelnd fort: »Das solltest du nicht tun.«
»Ich kalkuliere immer ganz genau, wie weit ich gehen kann, das weißt du doch«, antwortete Ian. »Und wie ich dir schon sagte, habe ich gehofft, dich wiederzusehen - natürlich ohne daß wir gezwungen wären, aufeinander zu schießen. Allerdings hätte ich nicht gedacht, daß Mrs. Tremaine bei meinem Anblick so überrascht sein würde - oder sollte ich sagen, schockiert? Jedenfalls war es eine interessante Erfahrung.«
»Warum? Wovon redest du überhaupt?«
»Ich kam rein, und sie wurde ohnmächtig.«
»Was?«
»Sie sah mir ins Gesicht und dachte anscheinend, du wärst ich.«
»So ähnlich siehst du mir?«
Ian seufzte in gespielter Ungeduld und sagte: »Julian, ich bin der Ältere. Du siehst mir ähnlich.«
»Ich habe sie zuerst getroffen, deshalb siehst du mir ähnlich.«
»Ob so oder anders. Ist ja auch egal. Aber sag mir doch, Julian, was du getan hast, um einer Witwe soviel Kummer zu bereiten.«
»Ich habe sie davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen.«
»Oh, mir kam sie nicht so vor, als beabsichtige sie, sich umzubringen!«
»Ich habe ihr das Morphium weggenommen.«
»Sonst nichts?«
Julian zögerte, als überlege er, welche seiner Erinnerungen der Realität entsprachen und was er seinem Bruder davon erzählen konnte. »Ich habe es ihr mit Gewalt entrissen«, sagte er schließlich. »Wir haben uns deshalb gestritten, und sie stand zu diesem Zeitpunkt schon ein wenig unter dem Einfluß der Droge.«
»Früher hattest du mehr Geduld mit deinen Patienten, Julian.«
»Früher hatte ich auch nicht so viel mit zerfetzten und sterbenden Männern zu tun und konnte deshalb mehr Geduld für Menschen aufbringen, die sich aufgegeben hatten. Und außerdem ...«, fuhr er fort, brach dann aber mitten im Satz ab und zuckte mit den Schultern.
»Und außerdem...?«
»... macht sie mich wütend. Vielleicht, weil sie eine Hexe ist, eine Frau, die andere in ihren Bann schlägt und mehr weiß, als ihr guttut.«
»Vielleicht müßte man sie einfach nur beschäftigen. Sie würde sicher eine wunderbare Krankenschwester abgeben.«
»Mit Sicherheit.«
»Ich werde ihr das vorschlagen.«
»Ja, tu das«, murmelte Julian, erstaunt darüber, daß es ihn störte, daß Ian vorhatte, ihr etwas Derartiges vorzuschlagen und ihm die Witwe dadurch womöglich abspenstig zu machen. Aber Julian wußte auch, daß das genau das richtige für sie wäre. Sie mußte wieder unter Menschen und selbst erleben, wie sehr einen der Wunsch beseelen konnte, Leben zu retten. Wenn sie erst einmal erkannte, daß manch einer die Chance hatte zu überleben, weil sie ihm half, würde sie von ihren Selbstmordgedanken abkommen.
»Ich muß jetzt wirklich zurück, Julian«, riß Ian ihn aus seinen Überlegungen. »Aber ich wollte dich noch wegen einer anderen Sache sprechen, und zwar geht es da um etwas, das uns beiden am Herzen liegt.«
»Ist irgendwas nicht in Ordnung?« fragte Julian.
»Ob irgend etwas nicht in Ordnung ist? Du meinst, abgesehen davon, daß wir Krieg haben und auf entgegengesetzten
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