Sieg des Herzens
kleinen Boot und kam mit leicht wankendem Schritt auf die Gruppe der Wartenden am Steg zu. Rhiannon sah sein Gesicht, und obwohl er ihr fremd war, wußte sie sofort, daß es Jerome sein mußte und wie er sich fühlte, während sie gleichzeitig ein merkwürdiges Zittern überkam. In ihrem Traum hatte sie ihn zunächst für Julian
- oder Ian - gehalten, weil er ihnen so ähnlich sah; abgesehen davon, daß Jeromes Wangenknochen etwas höher lagen und sein Haar extrem glatt war und einen blauschwarzen Schimmer hatte.
Jerome McKenzie bemerkte trotz seiner offensichtlichen Benommenheit, daß sie ihn eingehend und besorgt musterte. Wahrscheinlich hatte er ziemlich viel Rum oder Whiskey intus, denn nun fing er auch noch lallend an zu singen: »Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord. In den Kesseln da faulte das Wasser, und täglich ging einer über Bord. Ahoi! Kameraden! Ahoi, ahoi!«
»Schnell! Bringen wir ihn ins Lazarettzelt«, befahl Julian.
Rhiannon war einfach am Ufer stehengeblieben, aber Julian kam zurück, um sie wieder bei der Hand zu nehmen. Gemeinsam hasteten sie zu einem Zelt, wo man Jerome auf eine provisorische Krankenbahre gebettet hatte.
»Guter Gott, David«, murmelte Julian zu dem Mann gewandt, der seinen Vetter vom Boot bis zum Zelt halb gestützt und halb getragen hatte.
»Er hat Fieber bekommen«, entgegnete David, der wohl der Schiffsarzt sein mußte. »Die Kugel sitzt ganz nah am Schulterblatt.«
»Julian, Julian«, ließ sich da Jerome vernehmen, »dieser Kerl hat mir wirklich die Hölle heiß gemacht und darauf bestanden, daß meine Überlebenschancen viel größer wären, wenn er mir sofort den Arm amputierte!«
»Jerome, häufig ist es wirklich so, daß ein rascher chirurgischer Eingriff Leben rettet...«
»Aber du kannst mir helfen, ohne daß ich meinen Arm verliere.«
»David ist genauso gut wie ich, und das weißt du auch, sonst wäre er nicht dein Schiffsarzt!«
»Ich mußte einfach herkommen«, beharrte Jerome lächelnd. Obwohl er betrunken war und ziemlich mitgenommen aussah, hatte er ein charmantes Lächeln. Auch darin ähnelten sich die McKenzies sehr; wenn sich Julian mal dazu entschloß, einem dieses Lächeln zu schenken, war er unwiderstehlich.
Abrupt versuchte Jerome nun, sich aufzusetzen, deutete dann mit einer Hand auf Rhiannon und sagte: »Du da!«
Rhiannon erstarrte.
»Ich kenne dich«, fuhr Jerome fort und runzelte verwirrt die Stirn. »Ich habe dich in meinen Träumen gesehen.«
»Deine Frau wird sich freuen, das zu hören, Jerome«, sagte Tia streng, die vorher nur ganz verängstigt neben dem Bett gestanden hatte.
Empört sah Jerome zu ihr hinüber und fuhr dann fort: »Man trifft in diesem Job nicht viele Frauen, aber hier und da habe ich schon mal ein gute Ärztin kennengelernt. Sie sind doch Ärztin?«
Rhiannon schüttelte vehement den Kopf und entgegnete: »Nein, nein, ich...«
»Sie sind eine Naturheilerin - eine weise Frau«, sagte Jerome nun mit Bestimmtheit, und so wie er sie dabei ansah, dachte Rhiannon, daß er gar nicht so betrunken war, wie er sie glauben machen wollte, und vielleicht jemanden kannte, der ihr ziemlich ähnlich sah oder ähnliche Fähigkeiten wie sie besaß. Jedenfalls schien er sich irgendwie mit ihr verbunden zu fühlen ... und ihr zu vertrauen.
Rhiannon bemerkte, wie Tia sie anstarrte, und erwiderte deren Blick. Am Anfang hatte sie gedacht, daß die junge Miß McKenzie sie haßte, aber nun wurde ihr klar, daß Tia wohl noch abwartete, bevor sie sich ein Urteil über sie bildete.
Dann sah Rhiannon von ihr zu Jerome und sagte mit einem wehmütigen Lächeln: »Ich bin die ortsansässige Hexe.«
»Eine Yankee-Hexe, nehme ich an.«
»Ich fürchte, ja. Woher wissen Sie das?«
Anstatt ihre Frage zu beantworten, sagte Jerome: »Und mein unmöglicher Vetter hat Sie bestimmt hierher verschleppt, stimmt's?«
»So in etwa«, entgegnete ihm Julian, bevor Rhiannon noch etwas dazu sagen konnte. »Und jetzt leg dich wieder hin, Jerome. Du magst ja der Herr der sieben Meere sein, aber wir wollen jetzt dafür sorgen, daß du das auch bleibst.«
Jerome tat tatsächlich wie ihn geheißen, sah aber wieder zu Rhiannon hinüber und sagte: »Bitte sorgen Sie dafür, daß Julian mir nicht den Arm abnimmt, nur weil er Angst hat, daß ich ihm sonst wegsterbe. Wir stehen uns sehr nahe, müssen Sie wissen, und er liebt mich wie einen Bruder. Womöglich fängt er an, mir den Arm abzunehmen, nur weil er Angst hat, so zu arbeiten wie sonst,
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