Sieg des Herzens
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, daß Julian irgendwann auf sie zukommen würde, um sie zu bitten, doch ein bißchen geselliger zu sein und sich ihnen anzuschließen; Yankee hin oder her. Aber er war nicht mal in ihre Nähe gekommen.
Am Nachmittag des zweiten Tages saß sie in ihrem Zelt und war dabei, einen Haufen kaputter Kleider und Unterwäsche zu flicken, die zwar alle ganz sauber am Bach gewaschen worden, aber, wie alles im Camp, ziemlich abgenutzt waren. Sie wollte dem Gegner natürlich nicht wirklich helfen oder ihn sonstwie unterstützen, aber da sie die Männer nicht in diesen Sachen herumlaufen sehen konnte
- am Ende würde noch ihr bestes Stück herausfallen flickte sie sie eben.
Sie war immer noch damit beschäftigt, als Rachel ins Zelt kam und aufgeregt hervorstieß: »Also wirklich, Rhiannon, dieser Mann ist ein Dämon! Er will die ganze Zeit aus dem Bett raus und behauptet, daß er sich auch auf seinem Schiff wunderbar auskurieren könne. Die arme Risa versucht unentwegt, ihm klarzumachen, daß er nicht das Recht habe, sein Leben derart aufs Spiel zu setzen, wo er doch jetzt einen Jungen hat - von ihr selbst ganz zu schweigen. Julian hat schon damit gedroht, den gesamten Bestand an Beruhigungsmitteln der Konföderation zu plündern und in ihn hineinzupumpen, damit er endlich still ist und sich nicht aufführt wie ein ...« Hier machte sie eine kleine
Pause und kicherte, bevor sie fortfuhr: »Julian hat wirklich dieses Wort benutzt, ehrlich.«
»Was hat er denn gesagt?«
»Arschloch!«
»Rachel!«
Rhiannons Entrüstung über diesen Kraftausdruck ernüchterte Rachel ein wenig, die dann meinte: »Ich glaube, Jerome sollte sich wirklich ein bißchen beruhigen. Was denkst du?«
»Ja, der Ansicht bin ich auch. Aber gib acht, du gewöhnst dir unmögliche Ausdrücke bei diesen Rebellen an!«
»Hm, denkst du etwa, die Yankees benutzen solche Wörter nicht?«
»Werd bloß nicht frech«, sagte Rhiannon streng, legte ihre Näharbeit beiseite und erhob sich.
»Wohin willst du?« rief Rachel erstaunt.
»Zu dem Patienten.«
Rhiannon verließ das Zelt und durchquerte das Lager, wo die Soldaten mit allen möglichen Arbeiten beschäftigt waren. Als sie an ihnen vorbeikam, hielten sie mit ihrer Schnitzerei oder dem Gewehrsäubern inne und sahen auf. Alle nickten ihr höflich zu, und auch sie erwiderte den Gruß mit einem Kopfnicken, während sie unbeirrt dem Zelt zustrebte, in dem Jerome McKenzie lag. Dort angekommen, wartete sie einen Augenblick, bevor sie hineinging. Sie hörte Julian mit ärgerlicher Stimme zu Jerome sagen, daß er wenigstens noch ein paar Tage im Bett bleiben müsse. Auch Risas aufgebrachte Stimme war zu vernehmen, die dann aber in ein Schluchzen überging. David versuchte, vernünftig mit Jerome zu reden, und erklärte ihm, welches Risiko er einginge, wenn er jetzt schon aufstand, und daß eine Infektion fast sicher sei, falls die Wunde wieder zu bluten anfinge.
Dann betrat Rhiannon das Zelt. Jerome sah fiebrig aus, aber sie hatte sich schon so etwas gedacht, denn sonst wäre er bestimmt nicht so streitsüchtig gewesen, wo es die Menschen um ihn herum doch nur gut mit ihm meinten und sich seinetwegen Sorgen machten. Er war gerade dabei, so richtig loszulegen, als er sie sah und verstummte.
Die anderen, die ihr den Rücken zugekehrt hatten, drehten sich nun zu ihr um, und Julian sagte gereizt: »Ah, da ist ja auch unsere schwarze Witwe!«
Rhiannon reagierte nicht auf seine spitze Bemerkung, sondern ging direkt an ihm vorbei zu Jerome, blickte dem Patienten kopfschüttelnd in die Augen und sagte: »Sie brauchen gar nicht erst daran zu denken, aufzustehen.«
Erstaunt stellte sie fest, daß er ihr nicht postwendend, sondern erst nach einem Augenblick entgegnete: »Und warum nicht?«
»Sie haben doch sicher davon gehört, daß ich ... hellsehen kann? Und ich sage Ihnen, gehen Sie nicht. Nicht jetzt.«
»Und wenn ich es doch tue?«
»Wenn Sie jetzt gehen ...«, setzte sie an, hielt dann aber inne, bevor sie achselzuckend fortfuhr: »Na gut, Sie haben es nicht anders gewollt! Ich will Ihnen sagen, was Sie dann erwartet. Es wird bald ein Sturm aufkommen, und Sie geraten ...«
»Ich bin ein ausgezeichneter Seemann«, entgegnete Jerome herausfordernd.
»Das sind Sie, aber diesmal würde Ihr Schiff von einem großen Brecher getroffen werden.«
»Wie heißt mein Schiff denn überhaupt? Können Sie das auch sehen?«
»Lady Varina.«
»Ganz Florida kennt den Namen deines Schiffes,
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