Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
und die Sorge um Adam aus meiner Schultermuskulatur. Ich blieb lange unter dem Strahl stehen, und das Wasser wurde nicht im Geringsten kälter.
Schließlich verließ ich die Dusche verschrumpelt und entspannt. Ich zog mir kurze Hosen und ein T-Shirt mit dem Bild eines heruntergekommenen kleinen Hauses an. Darüber stand: »Diebe willkommen. Bitte nicht die Werwölfe füttern.« Jesse hatte es für mich drucken lassen.
Auf dem Weg zurück zum Wohnwagen brannte die Sonne mir die Feuchtigkeit aus den Haaren. Ich holte mir mein Buch aus dem Koffer, dann legte ich mich draußen ins Gras, um zu lesen, bis Adam zurückkam.
Er war schon ziemlich lange unterwegs.
Ich las ungefähr eine Viertelstunde, dann riss mich ein
schlurfendes Geräusch aus der Handlung. Ich sah auf, konnte aber nichts entdecken außer Vögeln und Insekten.
Ich schaute wieder in mein Buch, dann hörte ich es noch einmal. Es klang, als riebe jemand ungefähr drei Meter vor mir eine weiche Schuhsohle über den Asphalt. Aber auf der Straße war niemand. Ich holte tief Luft und witterte – meine Hörvermögen ist gut, aber meine Nase ist besser.
Ich erwartete den Geruch eines Maulwurfs oder eines Erdhörnchens, etwas, das außer Sichtweite ein Geräusch verursachen konnte. Stattdessen witterte ich altmodisches gegerbtes Leder, den Rauch von Lagerfeuern, einen Hauch von Tabak und den unverwechselbaren Geruch eines unbekannten Mannes. Ich legte das Buch zur Seite und stand auf.
Während ich mich langsam einmal im Kreis drehte und nichts sah, stellten sich die Haare in meinem Nacken auf vertraute Weise auf.
Ich bin ein Walker. Das bedeutet hauptsächlich, dass ich mich, wann immer ich will, in einen Kojoten verwandeln kann. Das verleiht mir ein schärferes Gehör und einen besseren Geruchssinn als dem Rest der menschlichen Bevölkerung. Es macht mich auch schneller – und ich kann Geister spüren, die andere Leute nicht bemerken.
Hier war ein Geist. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich konnte ihn fühlen – und riechen.
Das schlurfende Geräusch setzte wieder ein. Im gleißenden Sonnenschein ging ich zu der Asphaltstraße, weil das Geräusch von dort zu kommen schien.
Ein Falke schrie, obwohl ich keinen Greifvogel am Himmel sehen konnte. Aber ich war nicht die Einzige, die es gehört hatte, denn alle Vögel, die mir bisher mit ihrem
Gesang Gesellschaft geleistet hatten, verstummten. Vielleicht war es ein echter Falke, aber meine Instinkte waren vom Gegenteil überzeugt, obwohl die meisten Geister, die ich bis jetzt gesehen hatte, menschlich gewesen waren.
Das Schlurfen war jetzt rhythmisch, fast wie eine sehr langsame Polka. Schlurf-schlurf, Pause, schlurf-schlurf, Pause. Der Geruch wurde stärker – und eine weitere Note kam hinzu: Kojote.
Ich musste dort ungefähr drei oder vier Minuten gestanden haben, während das Geräusch des Tanzes immer deutlicher wurde, bevor ich ihn sah. Zuerst sah ich seinen Lederanzug; der Rest von ihm blieb schemenhaft und traumähnlich. Aber die Fransen und die Stickereien an seinen Ärmeln und den Außenseiten seiner Leggins waren klar zu erkennen.
Die Lederkleidung war nichts, was man bei Pow-Wows sieht. Dort wird überwiegend gut gepflegte, fast sonntagsstaatsähnliche Kleidung getragen. Wunderschöne, farbenprächtige, handgefertigte Kleidung, die für spezielle Gelegenheiten geschaffen wurde.
Diese Lederkleidung sah aus, als hätte er sie so lange getragen, dass sie ihm nun passte wie eine zweite Haut. An der Innenseite seiner Beine war das Leder fast durchgescheuert, als hätte er lange Zeit im Sattel gesessen. Unter den Armen und am Rücken, wo sich der Schweiß seines Tanzes gesammelt hatte, war das Leder dunkler. Er trug einen mit Stachelschweinborsten besetzten Ledergürtel, an dem ein freischwingender Kojotenschwanz hing. Die Farben der Stickereien waren verblasst und der Kojotenschwanz war schon ein wenig fadenscheinig.
Ich fing an, die Musik zu hören, zu der er tanzte. Es
war kein mystisches Trommeln oder Flötenspiel. Er selbst war der Musiker und begleitete sich mit seinem eigenen Lied, einer nasalen, wortlosen Melodie, die in meinen Knochen widerhallte. Ungefähr zur selben Zeit konnte ich auch seine Hände sehen. Es waren die Hände eines Arbeiters; Rancherhände, vernarbt und voller Schwielen. Die Hände eines Mannes, aber nicht die eines alten Mannes. Ein Finger war irgendwann gebrochen und krumm wieder geheilt.
Er trug seine Haare in zwei dicken, geflochtenen Zöpfen, die mit roten
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