Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
Lederbändern zusammengehalten wurden und ihm bis kurz unter die Schulterblätter hingen. Ich erkannte einige der Tanzbewegungen von den zwei oder drei Pow-Wows, die ich während meiner Collegezeit besucht hatte, als ich noch auf der Suche nach meinem kulturellen Erbe war. Während er tanzte, wurde er für meine Augen und den Rest meiner Sinne immer realer. Hätte ich nicht gesehen, wie er sich langsam materialisierte, hätte ich am Ende geschworen, er wäre eine lebendige Person, auch wenn er den Kopf abgewandt hielt, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte.
Sein Tanz wechselte von wild und schnell zu schmerzhaft langsam und zurück. Die ganze Zeit balancierte er sein Gewicht auf den Fußballen – es war der Tanz eines Kriegers, voller Macht und Magie und der Ahnung von Gewalt. Aber er war ein Krieger, und so verhinderte die Natur des Tänzers nicht, dass es gleichzeitig auch eine freudige Feier war.
Schließlich hörte der Geist mit abgewandtem Gesicht auf zu tanzen und sog die Luft in sich ein, die er während des Tanzes verbraucht hatte. Ich fragte mich, wie lange
es wohl her war, dass er diesen Tanz leibhaftig ausgeführt hatte und warum er es hier getan hatte.
»Hey«, sagte ich leise.
Es gibt Geister, die einfach immer nur wieder gewisse Szenen ihres Lebens widerholen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er auch zu dieser Gruppe gehörte, denn Geister, die sich ihrer eigenen Existenz bewusst sind und unabhängig handeln können, sind um einiges seltener – und sie neigen dazu, sofort Kontakt aufzunehmen. Der hier wies alle Anzeichen eines Wiederholungtäters auf; dieser leidenschaftliche, gefühlvolle Tanz hatte gewirkt, als wäre er in einem Schlüsselmoment im Leben aufgeführt worden.
Aber meine Stimme sorgte dafür, dass seine Schultern sich versteiften. Dann drehte er sich langsam zu mir um, bis ich in das Gesicht eines Mannes starrte, den ich nie getroffen hatte, dessen Gesicht mir aber so vertraut war als sähe ich in den Spiegel, obwohl ich nur ein einziges Schwarz-Weiß-Foto von ihm besaß, das ich aus dem Zeitungsbericht über seinen Tod ausgeschnitten hatte.
Mein Vater.
Ich konnte nicht reden, konnte nicht atmen. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand ins Zwerchfell geschlagen, und meine Lungen verweigerten einfach die Arbeit.
Er starrte mich ernst an. Langsam, fast schon zeremoniell, neigte er den Kopf. Dann glitt er so mühelos und leicht, wie auch ich es kann, in die Form eines Kojoten. Der Kojote erschien seltsamerweise fast realer als der Mann. Er musterte mich mit demselben kühnen Blick wie in seiner Menschenform, dann schoss er ohne Warnung über den Campingplatz davon und verschwand in den ein paar Meter entfernten Büschen.
Auf dem Foto trug mein Vater das Outfit eines Rodeo-Cowboys – Jeans, langärmliges Westernhemd und einen Cowboyhut. Meine Mutter, damals eine Jugendliche, die gegen ihre strengen Eltern aufbegehrte, hatte ihn auf einem Rodeo getroffen, wo sie mit dem besten Pferd ihrer Freundin gutes Geld beim Barrel-Racing gewonnen hatte, als sie noch jünger war als Jesse heute. Sie hatte keine Chance gehabt, ihm zu sagen, dass sie schwanger war, weil er vorher bei einem Autounfall ums Leben kam. Der Name, den er ihr genannt hatte, war Joe Old Coyote.
Ich hatte den Geist meines Vaters noch nie zuvor gesehen. Er war mir nicht erschienen, als ich mich aus Montana fortgeschlichen hatte und aus dem einzigen Zuhause geflohen war, das ich je gekannt hatte. Er war nicht erschienen, als ich Highschool oder College abgeschlossen hatte. Er war nicht erschienen, als ich auf Leben und Tod gegen das Feenvolk und Dämonen und jede Menge andere, fiese Kreaturen gekämpft hatte. Er war nicht zu meiner Hochzeit erschienen.
Ich suchte nach Fußabdrücken. Vielleicht fühlte ich mich relativ sicher in meinem Wissen über Werwölfe, relativ sicher in meinem Wissen über Vampire. Das Feenvolk war da schon eine andere Sache – und mir war klar, dass es noch viele andere Dinge gab, über die ich nichts wusste, ein paar davon einzigartig, der Rest nur gut verborgen.
Ich war mir sicher gewesen, dass ich einen Geist gesehen hatte, bis mir der Gedanke kam, wie mein Vater, der Hunderte von Meilen entfernt im östlichen Montana gestorben war, hierhergekommen sein sollte. Er hatte sich in einen Kojoten verwandelt, genauso, wie ich es auch
konnte, und war in die Büsche davongerannt. Die meisten Geister müssen nicht weglaufen; sie lösen sich einfach auf. Aber es gab keine Spuren –
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